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Buch III.
Italien.
XVI.
Jahrhundert.
Itafael.
181.
rhythmische Anordnung des (janzen gebracht. Eine wunder-
same Anordnung in den Stellungen und Bewegungen, eine
eigenthümliche Harmonie der Formen und des Colorits geht
durch das ganze Bild (in dem nur leider hie und da bedeu-
tende Restaurationen nöthig geworden sind). Sehr interessant
ist der Vergleich dieses Werkes mit Michelangelds Sibyllen,
der jeden der beiden Meister in seiner eigenthümlichen Treff-
lichkeit. zeigt: während letzterer in seinen Compositionen
grossartig, erhaben und tiefsinnig erscheint, so tragt Rafael
auch in diesem Gemälde das Gepräge seiner heiteren und
cffenen Anmuth. Die vier Propheten an der Wand über den
Sibyllen sind nach Zeichnungen Rafaclls von Timoteo della
Vite ausgeführt.
Weniger zu Rafaelis Gunsten fällt ein solcher Vergleich
bei dem zweiten Frescobilde aus, welches er schon zwei
2, Jahre früher an einem Pfeiler der Kirche S. Agostino zu
Rom ausführte. Es stellt den Propheten Jesaias dar,
hinter dem zwei Genien eine Inschrifttafel halten. Hier sieht
man ein absichtliches Bestreben, der Gewalt des Michelangelo
nachzueifern, statt deren aber nur, bei allen Vorzügen der
Technik im Einzelnen, ein übertriebenes, selbst affektirtes
Wesen zu Tage gekommen istü).
In Bezug auf den Vergleich mit Michelangelo ist hier
3. noch ein kleines Oelbildchen anzuführen, welches Rafael be-
reits im Jahre 1510 gemalt haben soll, das aber, nach seiner
i?) Dass schon in demselben Jahre 1512, in welchem der Jesaias-
entstand, der Einfluss Michelangelds auf Rafael eine anerkannte Sache
war, beweist der Bericht Sebastian del Piombds über seine merkwür-
dige Audienz bei Julius II., abgedruckt bei Gaye, Cartegg. 11., S,
477 u. f. Wenn dem Sebastian zu trauen ist, drückte der Papst sich
so aus: "Betrachte nur die Werke RafaePs! seitdem ei- die Arbeiten
Michelangelds gesehen, hat er sogleich ( 8145170) die Manier des Peru-
gino verlassen und sich soviel als möglich der des Michelangelo ge-
nähert faccostavaj." Gaye bezieht dies auf den Carton des letztern
in Florenz, allein die florentinischen Werke RafaePs lassen noch so
wenig von der Einwirkung Michelangelds spüren, dass man viel eher
an die Decke der sixtinischen Kapelle zu denken hat, von welcher
wenigstens ein Theil schon im Jahre 1509 dem Publicum sichtbar war.