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Buch III.
Italien.
XVI. J ahrhund ert.
Rafael.
176.
Altar im Chor einer Kirche. Vor demselben kniet der Prie-
ster, welcher die blutende Hostie mit dem Ausdrucke von
Befangenheit, Staunen und "Beschämung betrachtet. Hinter
ihm Chorknaben mit Kerzen in den Händen. Auf der andern
Seite des Altars, vor seinem Betstuhle, kniet Julius II. betend,
-die Augen mit unerschütterlicher Festigkeit und dem Aus-
druck vollkommener ernster Üeberzeugung auf das Wunder
geheftet. Seitwärts (zu beiden Seiten des Fensters) gehen
Treppen hinab. Auf der Seite des Priesters drängt sich
zahlreiches Volk mit dem Ausdruck mannigfaltigster Ver-
wunderung heran; vor der Treppe eine Gruppe von Weibern
und Kindern, die soeben auf den Vorgang aufmerksam ge-
macht werden. Auf der andern Seite, hinter dem Papste,
knieen Cardinäle und andre Prälaten in verschiedener Theil-
nahme an dem Ereigniss; vorn vor der Treppe ein Theil der
päpstlichen Schweizergarde. Nächst "der treiflichen, in sich
vollendeten Composition zeichnet sich dies Bild durch eine
sehr wohlgelungene Charakteristik aus; das höfisch schmieg-
same in den Gestalten der Priester, die derbe baurische Kraft.
der Schweizer, die verschiedene Weise, wie die Personen im
Volke ihre Theilnahme bezeugen, vornehmlich aber die höchst
liebenswürdige Naivetät der Chorknaben und der Jünglinge,
welche über die Brüstungsmauer des Chores blicken, Alles
dieses schliesst sich den sehr bedeutsamen Hauptpersonen auf
erfreuliche Weise an. In der technischen Ausführung dieses
Bildes rühmt man vornehmlich das Colorit und stellt hier
Rafael den Meistern der venetianischen Schule zur Seite; doch
hat die Farbe, wenn auch warm, im Vortrage hie und da
etwas Rohes, ich möchte fast sagen Tapetenartiges; und lässt
bereits eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die Vollendung
des Einzelnen ahnen, die von jetzt ab mehr und mehr in den
Fresken der vaticanischen Stanzen ersichtlich wird.
Wenn letzteres schon darin begründet sein dürfte, dass
Rafael in den letztbesprochenen Bildern sich zur grössten
Freiheit künstlerischer Conception emporgearbeitet hatte und
dass solche Freiheit, wie es in der menschlichen Natur ein-
mal begründet ist, leicht zur Unterschätzung der äussern