Volltext: Franz Kugler's Handbuch der Geschichte der Malerei seit Constantin dem Großen (Bd. 2)

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Buch III. 
Italien 
XVI. 
Jahrhundert. 
Michelangelo. 
druck menschlicher Leidenschaft, menschlichen Strebens; 
wir sehen keinen Chor feierlich ruhender Gestalten, nicht 
jenen harmonischen Einklang klarer und grosser Linien, 
Welcher vornehmlich durch eine festlich ideale Gewandung 
hervorgebracht wird, sondern ein Gewühl der mannigfachsten 
Bewegungen, nackte Körper in unruhigen Stellungen und 
ohne jene, durch heilige Ücberlieferiuig feststehende Charak- 
teristik. Die Hauptgestalt des ganzen Bildes vornehmlich, 
Christus, zeigt uns keine andre Eigenschaft, als nur die des 
Richters; er ist ohne allen Ausdruck göttlicher Majestät, wir 
fühlen es nicht, dass es der Erlös er ist, der hier das Richter- 
amt verwaltet. Die ganze obere Hälfte des Bildes zeigt 
inannigfach Schweres bei aller meisterlichen Kühnheit der 
Zeichnung, Ünklares trotz der Sonderung in einzelne Haupt- 
und Nebengruppen, Willkürliches bei der grossartigen An- 
ordnung des Ganzen. 
Lassen wir aber dies einseitige Ilervorheben eines ein- 
zelnen Momentes gelten, so erscheint schon jene obere Ilälfte 
von eigenthümlieh bedeutender Gesammtwirkung; auch treten 
die einzelnen Mangel bei der grösseren Entfernung dieser 
Theile des Bildes vom Auge des Beschauers minder auffällig 
hervor. Des höchsten Ruhmes würdig aber ist dann die 
untere Hälfte des Bildes. Von jenem schweren und lang- 
samen Emporsteigen und Emporziehen der Begnadigten an, 
walten hier alle Stufen von Befangenheit, Angst, Entsetzen, 
Grimm und Verzweiflung. An geeignetster Stelle offenbart 
sich hier, in dem convulsivischen Kampfe der Verworfenen mit 
den bösen Dämonen, jenes übermässige leidenschaftliche Ele- 
nient und die, zum Ausdruck desselben nothwendige ausser- 
ordentliche Kunstfertigkeit des Meisters. Dabei herrscht 
durchweg, in den Gestalten derjenigen sowohl, welche de,- 
gitnzlichen Verzweiflung Preis gegeben sind, als in denen 
der höllischen Peiniger, ein eigenthümlich tragischer Adel, 
ein grossartiges, ergreifendes PathOS,  so dass die Dar- 
stellung des schrecklichen hier nicht nur das Gemüth des 
Beschauers nicht abstösst, sondern in derjenigen wahrhaft sitt- 
liehen Reinigung erscheint, welche das Wesen des höheren
	        
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