166.
Decke
der
sixtinischen
Kapelle.
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Schmerz einer zerrütteten, sündigen Welt zu begreifen und
zu tragen vermögen und dass sie die Kraft haben, deren
Blick auf den Trost der Zukunft hinzuleiten. Doch herrscht
in ihnen zugleich die grösste Mannigfaltigkeit der Stellungen
und des Ausdruckes, und eine jede dieser Gestalten ist auf
die eigenthümlichste Weise individualisirt: Zacharias als Greis
in hohem Alter, ruhig und überlegsam forschend; J eremias
niedergebückt, versunken in die Gedanken eines bitteren,
gewaltsamen Schmerzes; Ezechiel, sich in liastiger Be-
wegung zu dem Genius neben ihm timwendend, der in freu-
diger Offenbarung nach oben weist; u. s. w. So auch die
Sibyllen: die Persische, ein mächtiges hohes Weib, wiederum
hoch bejahrt; die Erythräische voll der schönsten Kraft,
der kriegerischen Göttin der Weisheit vergleichbar; die
Delphische, wie Kassandra, jungfräulich zart und anmuthvoll,
aber auch sie kräftig genug, um den hohen Ernst der Offen-
barung tragen zu können; u. s. W.
Die Vorfahren der heiligen Jungfrau stellen die
mannichfaltigsten Familiengruppen dar, in denen sich, ohne
Hindeutung auf besondre Handlungen und Verhältnisse (da-
von bekanntlich auch in der Schrift zumeist nichts erwähnt
wird), nur eben das Beisammensein in der Familie und ein
stilles Harren und Hoffen in die Zukunft ausspricht. Doch
hat der Künstlen diese Zilstände zu den mannichfaltigsten
Motiven zu benutzen und solcher Gestalt eine grosse Reihe
verschiedener Gruppen (larzustellen gewusst; Welche stimmt-
lich durch eine cigenthümliche Abgeschlossenheit und durch
eine grossartig schöne Atlifassung der Verhältnisse des Fa-
malienlebens anziehen. Auch diese Gruppen und Gestalten
gehören wiederum zu Michelangelds edelsten Üompositionen;
in ihnen namentlich giebt er Beispiele einer Innigkeit und
Zartheit, die, wenn sie auch immer das Gepräge seines
erhabenen Geistes tragen, so doch nur selten in seinen Werken
gefunden werden und die in allgemeiner Beziehung sehr in-
teressante Vergleichungspunkte mit Rafaels heiligen Familien
darbieten.
Noch sind unter den Deckengemälden der SiXt-iniSChen
10m