Decke
der
sixtinischen
Kapelle.
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tektonischen Formen zu stützen, zu tragen, auszufüllen und
zu beschliessen; ich möchte sie am liebsten als die lebendigen
Geister und Verkörperungen .der Architektur bezeichnen. Es
bedurfte eines Mannes, der gleich gross im Fache der Archi-
tektur und Sculptur, wie in dem der Malerei War, um ein
architektonisches Ganze von so grossartiger Wirkung zu er-
finden und die dekorativen Figuren in ihrer bedeutsamen
plastischen Ruhe, zugleich aber in ihrer Unterordnung unter
die flauptgegenstände zu entwerfen, und um letztere in den
für die Räumlichkeit günstigsten Massen und Verhältnissen
zu halten. lXIanche Künstler der späteren Zeit (wie nament-
lich Annibale Caracci in der Galerie des Palastes Farnese,
haben Aehnliches versucht, aber keiner hat es vermocht, den
Gedanken des Ganzen in derselben inneren Nothwendigkeit
zu erfassen und durchzuführen.
Die Geschichten der Genesis, wie sie Michel-
angelo an dem mittleren Theile dieser Decke ausgeführt hat,
sind die erhabensten Darstellungen dieses Gegenstandes; in
ihnen tritt das Wesen des schaffenden Weltgeistes lebendig
vor die Augen des Beschauers. Michelangelo hat hier einen
eigenthürnlichen Typus für die Gestalt des allmächtigen
Vaters erfunden, der mannigfach von seinen Nachfolgern
( schon von Rafael) nachgebildet, aber von keinem über-
troffen worden ist. Er stellt ihn in gewaltigem Fluge, hin-
rauschend durch die Lüfte, dar, umgeben von Genien, welche
halb ihn tragen, halb von ihm getragen werden und von
seinen flatternden Gewanden bedeckt sind; es sind die ein-
zelnen Laute, die einzelnen Kräfte seines schöpferischen
Wortes. S0 sehen wir ihn auf dem ersten Bilde, wo er mit
der einen Hand der Sonne, mit der andern Hand dem Monde
seine Bahn weiset. So auch auf dem zweiten Hauptbilde, wo
er den ersten Menschen zum Leben erweckt. Hier liegt
Adam am Ufer der Erde hingcstreckt, im Begriff, sich empor-
zurichten; der Schöpfer berührt mit der Spitze seines Fingers
den des Menschen und scheint so die Kraft und das Gefühl
des Lebens in jenen hinüberzuströmen; ßS ist ein Bild V03
wunderbar tiefsinniger Composition und VOÜ der edelsten
liugler hlalerei n. 10