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Gegensatz Italiens
und
des
Nordens.
ist, Sitzen auf Körpern, denen aller innere Organismus und
alle Lebensfähigkeit abzugehen scheint. Eine unheilbare Will-
kür, Welche allmälig die Gestalt eines conventionellen Her-
kommens annimmt, macht oft die schönsten Conceptionen un-
geniessbar, so wundersam auch der Ausdruck und die Wahr-
heit mancher Köpfe, der Humor und die Poesie mancher
einzelnen Züge, die Pracht der Farbe und die Naivetät der
Darstellung den Bcschauer ergreifen mag. Einzelne Künstler,
wie Memling und Martin Schön, haben auf diese Weise inner-
halb der Schranken ihres Schultypus die geistige Gewalt eines
grossen Talentes entwickelt; später eroberte Holbein's dämo-
nische Kraft dem Realismus neue Gebiete; aber nur der ein-
zige Albrecht Dürer hat nach einem Leben voller Kämpfe
und Mühen in seinem letzten Werke jene höhere Vollendung
erreicht, welche auf der Vereinigung eines grossen Gedan-
kens mit der ihm angemessenen grossen Form beruht. Als
er dieses Werk schuf, hatte jedoch schon diejenige Bewe-
gung des nördlichen Europa's begonnen, welche die Geister
auf neue weltgeschichtliche Bahnen lenken und in der Folge
auch der Kunst neue Richtungen verzeichnen sollte.
Warum nun die Entwickelung der italienischen Malerei
eine harmonische war, die der nordischen eine partielle,
warum erstere zu einer mit dem perikleischen Zeitalter zu
Vergleichenden Blüthezeit führte, letztere aber nicht, diese
Frage vermessen wir uns nicht zu beantworten. In der Ent-
wickelung der verschiedenen Völkercharaktere wird Manches
auf ewig ein Geheimniss bleiben, Manches, auch wenn man
es zu erkennen glaubt, schwer in Worte zu fassen sein.