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Buch III.
Italien.
XVI. J ahrhundcrt.
Leonardo.
scheue Beobachtung. Hier sitzt, inmitten der ersten Gruppe,
der Verräther, ein versehlossenesischarfes Proül; er blickt
hastig forsehend zu Christus empor, gleichsam die Worte
sprechend: "Bin ichs, Rabbi I?" während er die linke Hand
und Christus die rechte, dem Vorgange der Schrift gemäss,
der Schüssel, die zwischen ihnen steht, unbemerkt nähern.
Ieh habe bereits geäussert, dass noch eine sehr grosse
Unsicherheit über diejenigen Werke, welche von Leonardo
erhalten sein sollen, herrscht; und dass bei WVeitem das Meiste
als Schülerarbeit betrachtet werden muss. Leonardo konnte
sich nie genügen, er arbeitete langsam und liess Manches
unvollendet, was sich schon durch die langen Unterbrechungen
in seiner künstlerischen Thätigkeit hinreichend erklärt. Was
1er aber an einzelnen Motiven und Conceptionen, wenn auch
vielleicht nur flüchtig entworfen hatte, genügte schon, um
eine ganze Schule zu beschäftigen und ihr den Stempel sei-
nes Genius aufzudrüeken. Eine ganze Reihe von seinen Er-
findungen ist nur durch solche Bilder seiner Schule bekannt.
Wir werden im Folgenden nur das Bedeutendste von diesen
Dingen erwähnen.
Unter den kleineren Gemälden, die Leonardo in Mailand
ausgeführt, werden vornehmlich die Portraits der beiden Ge-
liebten des Lodovico Sforza, der Cecilia Galleroni und der
Lucretia Crivelli gerühmt, von denen sich das erste in Mai-
7. land, das zweite in Paris beünden soll. Letzteres ist jener
ernste, wunderbar reizende Kopf, welcher dort den Namen
der belle ferroniere führt; bei etwas strenger Behandlung, die-
noch an die Kunst des XV. Jahrhunderts erinnert, zeichnet
sich dies Bild durch ungemein zarte Modellirung aus, ohne
doch irgendwie jenen gesuchten Effekt im Helldunkel zu err-
streben, der zu den minder erfreulichen Seiten" der von Leo-
8. nardo begründeten Richtung gehört. Die Sammlung der
Ambrosianisehen Bibliothek zu Mailand besitzt eine Reihe
sehr interessanter kleinerer Werke, unter denen die in Oel
gemalten Portraits des Lodovico und seiner-Gemahlin (diese
ebenfalls noch in der früheren, strengeren Weise des Künst-
9.-lers), vornehmlich aber einige in Pastell entworfene Portraits