160.
Leonardds
Jugendbildung.
113
die Schauplätze, wo der Mensch seine grösste Thätigkeit ent-
wickelt, und zeichnete in ein Skizzenbueh, dergleichen er
immer bei sich trug, was ihm Interessantes auffielgk). Er
folgte den Verbrechern zur Hinrichtung, um die Qualen der
_grössten Verzweiflung in sein Inneres aufzunehmen; er lud
Bauern in sein Haus und erzählte ihnen die läeherliehsten
Dinge, um an ihren Physiognomieen den Ausdruck der gröss-
ten Komik beobachten zu können. Mit demselben Eifer
beobachtete er" auch die Erscheinungen der leblosen Natur.
Von verschiedenen Schriften über die Kunst ist seine Ab-
handlung über die Malerei (Trattato della pittura) auf unsere
Zeit gekommen und noch immer ein sehr brauchbares
Lehrbuch.
Wenn diese Neigung zum sorgfaltigsten Studium auf
der einen Seite den festen Boden zeigt, auf Welchem Leo-
nardois Kunst wurzelte, wenn demgemäss charakteristische
Auüllssung und Darstellung als dasjenige Element zu be-
trachten ist, von welchem er insgemein auszugehen pflegte,
so war ihm doch auf der andern Seite zugleich eine Tiefe
subjectiver Empfindung, eine zarte, sentimentale Schwärmerei
eigen, welche in gewisser Weise mit. dem Grund-Element der
umbrischen Schule zu vergleichen sein mag. Es giebt ein-
zelne Werke von ihm, in welchen die eine oder die andere
Richtung vorherrscht; in seinen Hauptwerken dagegen
erscheint beides in reinstem Ebenmaasse gegeneinander ab-
gewogen, durch die Kraft des Gedankens und den Sinn für
die Schönheit der Formen und ihrer Verbindung zu einer
solchen Höhenstufe der Kunst geläutert, dass Leonardo un-
bedingt einen der ersten Plätze unter den Meistern neuerer
Kunst einzunehmen ermächtigt ist. Er, der das gemeine
Leben bis. in seine feinsten Nüancen und Besonderheiten
verfolgte,
wusste
zugleich
das
H eilige
und
Göttliche
in
einer
4:) Einzelne Charakterköpfe und Caricaturen sind noch hier und da
in Sammlungen, andere durch die Stiche von W. Hollaz: und Jac.
Sandrart erhalten. S. die deutsche Uebers. des Vasarl, Bd. III,
Abth. I, s. 16. '
Kugler Malerei II. 8