Aeussere
Bedingungen.
109
dualität in ihren Schülern und Nachfolgern mit grösserer oder
geringerer Kraft nachgewirkt hat.
Die Zeitgeschichte, mit welcher diese wunderbare Blüthe
der Kunst parallel geht, berechtigt beim ersten Anblick auf
keine Weise zu so hohen Erwartungen; es war eine Zeit
politischer Trennung und Zerfallenheit für Italien, es war
die Epoche der Liguen, d. h. der bodenlosesten Experimental-
politik, welche es je gegeben hat; damals setzte sich die Fremd-
herrschaft über Italien auf Jahrhunderte hin fest. Allein das
Höchste in der Kunst ist vom äussern Staatenleben nicht
unmittelbar abhängig; neben den Eroberern und Politikern,
welche damals seine Schicksale verwirrten, besass Italien
Fürsten wie Papst Julius 11., Magistrate wie Pietro Soderini,
Welche von der ewigen Bedeutung der Kunst ein lebendiges
Gefühl hatten; es besass reiche Corporationen, welche durch
sichere Bestellungen dem ganzen künstlerischen Dasein feste
Regel und Gestalt gaben; endlich ein Volk, in welchem der
Sinn für alles Grosse und Schöne wach geworden War und
welches sich damals noch als die erste Nation der Welt
fühlte.
Die Bildungszustände des Südens im XV. und XVI.
Jahrhundert in ihrer Eigenschaft als Grundlage der Kunst
genauer zu prüfen, würde uns allzuweit in die geschichtlichen
Fragen hineinführen, aber einige Bemerkungen dürfen nicht
übergangen werden. Man betrachtet das damalige Italien
gewöhnlich als einen Pfuhl der Sittenlosigkeit, allein man
lässt die unendliche Frische und Spannkraft des Volkes ausser
Berechnung, diese unzerstörbare Jugendlichkeit, Welche den
obern Kreisen des Daseins immer neue Kräfte, neue sitt-
liche Antriebe zuführte. Mochte die Sitte hie und da in der
tiefsten Verdcrbniss begriffen sein, so blühte dafür. die Ge-
sittung im vollkommensten Sinne des Wortes. Es bildete
sich nicht etwa bloss ein geselliges Uebereinkommen, son-
-dern ein echtes Gefühl für Schönheit und Würde des
Lebens aus, welches seit den guten Zeiten der alten Welt
zu schlummern geschienen hatte, und sich nun in der Litera-
tur und Poesie wie in der Gesellschaft, in der künstlerischen