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Buch III.
Italien.
XVI.
Jahrhundert.
welt ausmaehten. Denn das wahrhaft Schöne ist nicht ab-
hängig von den äusseren Formen seiner Erscheinung: Rafaels
Sixtinische Madonna und Phidias rossebändigendcr Heros,
Leonardols Abendmahl und SkopasnGruppe der Niohiden ver-
langen nicht katholische Italiener und nicht heidnische
Griechen, um im innersten Gemüthe verstanden zu werden
und den erhabensten Eindruck auf den Beschauer hervorzu-
bringen.
Und überraschend ist es für den ersten Atigenblick, (lass
in den Werken jener glücklichsten Zeit der neueren Kunst
nicht eine einzelne hervorragende Erscheinung wiederum als
der bedeutsamste Mittelpunkt, auf den die übrigen wie die
Radien des Kreises hindeuten, dasteht, nicht Eine höchste
Vollendung als das Ziel, als der Schlussstein dieses wunder-
samen Baues betrachtet werden kann; dass im Gegentheil
mannigfache Individuen, Kunstwerke Inannigfach verschiedener
Art vor unseren Augen erscheinen, von denen wir eines dem
andern an höchstem Werthe gleichsehiitzen müssen, dass
selbst minder begabte Künstler einzelnes höchst Vollendete
geschaffen haben, ja dass sogar aus YVerken, an denen
die Kritik diesen und jenen äusseren Mangel herausstellen
kann, doch derselbe Hauch jener göttlichsten Schönheit athmet,
dass sie doch dem Geiste des Beschauers eine tiefere Be-
friedigung gewähren, als dieselbe früher und später gefunden"
wird. Aber das ist eben das Wesen der wahrhaften Schön-
heit, dass sie nicht an diese oder jene bestimmte Norm ge-
bunden ist; dass sie das Leben in seiner ganzen Ausdehnung
durchdringt und von dem Auserwählten frei, nach seiner be-
sonderen Eigenthümlichkeit, aufgefasst und in frei geschaliener
Form dargestellt werden kann. Sie ist wie der Sonnenstrahl,
den das Prisma in verschiedene Farben bricht.
So werden wir denn in der Periode, zu deren Betrachtung
wir uns nunmehr wenden, verschiedene Ilauptgruppen Xvahr-
nehmen, welche von besonderen Eigenthümlichkeiten aus-
gehend die grossartigsten YVerke hervorgebracht haben. Wir
werden die einzelnen Meister kennen lernen, welche im Mittel-
punkte dieser Gruppen stehen, und deren besondere Indivi-