ä. 129. Als die Zustände des Mittelalters sich aufzu-
lösen begannen, als durch grosse Krisen die Bande gelockert
Wurden, womit die Kirche alles geistige Dasein umfasst hatte,
da machte sich auch die Kunst im Norden wie im Süden
von den Zwecken innerlich los, welchen sie bisher gedient
hatte, und gab sich dem ihr innewohnenden Streben nach
freier Wahrheit und Schönheit hin. Es ist derjenige Üeber-
gang, Welchen man mit dem oft missverstandenen Ausdruck
bezeichnet hat, dass die Kunst sich selbst Zweck geworden
sei. Zwar bleibt sie äusserlich fortwährend im Dienst der
Kirche, sie fährt fort, Wände und Altäre zu schmücken, allein
sie schafft bald keine einzige Figur mehr in ausschliesslich
religiösem Interesse, und es entstehen Werke, welche nur
noch durch den Gegenstand mit der kirchlichen Bestimmung
zusammenhängen, sonst aber das Ergebniss eines wesentlich
unabhängigen Kunstlebens sind.
Ehe aber die Malerei das Geheimniss der höchsten
Schönheit und Freiheit aufschliessen konnte, musste sie tief
untertauchen in die Wirklichkeit der äusseren Dinge. Die
allgemeine ldealität der Form, welche im XIV. Jahrhundert
die Typen des gothischen Styles belebt hatte, reichte dazu
nicht aus; u1n zu einem höhern, für alle Zukunft gültigen
Idealismus zu gelangen, wie ihn die Griechen entwickelt hat-
ten, bedurfte es noch eines Läuterungsbatles in der unmittel-
baren Natur; auch den Werken des Phidias war einst eine
Epoche von mehr naturalistischer Art vorangegangßll- Die
Malerei des XV. Jahrhunderts ist eine wesentlich realistische
gewesen und hat in dieser Richtung alle Höhen und Tiefen
Versueht- Wunderähnlich steigt dann am Ende des J ahr-