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Buch
Christl.
Alterthum.
selbe damals noch das gesammte äussere Leben erfüllte, an-
schliessen musste; ja indem man bisweilen von dem „guten
Hirten" ausgehend das Hirtenleben überhaupt in seinen ver-
schiedenen Situationen darstellte, gewann man einen harm-
losen Ersatz für die bisherigen mythischen, zumal bacchischen
2. Darstellungen. In ganz ähnlichem Sinne erweiterte sich das
Symbol des Weinstockes zu umständlichen Scenen der Wein-
bereitung durch nackte Kinder oder Genien, wie wir sie an
Sarkophagen und in Gruftmalereien der frühesten Zeit Öfter
(largestellt finden. Auch das Gegenstück des guten Hirten,
nämlich Christus als Fischer, fehlt nicht, und selbst als
Richter im Vvettkamlafe (Agonothet) wurde er, obwohl nicht
häufig, sinnbildlich dargestellt.
3_ Eine seltene und für den ersten Augenblick sehr befremd-
liche Darstellung, die auf Christus gedeutet werden muss, ist
die des Orpheus, der mit den Tönenseiner Leier die
Thiere des Waldes an sich lockt. Die Aufnahme einer, der
antiken Mythe angehörigen Person in den Kreis der christ-
liehen Anschauungen wird erklärlich durch die grosse Hoch-
achtung, die die reineren orphischen Lehren auch bei den
christlichen Kirchenvätern fanden und durch die Analogieen,
die man in der Mythe des Orpheus mit der Geschichte Christi
und vielleicht noch mehr mit dem Wesen des die Heiden und
Barbaren bändigenden Christenthums zu finden glaubte. In
der phrygischen Tracht, welche die spätere antike Kunst ihm
ertheilt, sitzt Orpheus, mit der Leier, von Thieren umgeben,
zwischen Bäumen, wobei sich eine gewisse Verwandtschaft
mit einigen Darstellungen des guten Hirten nicht verkennen
4. lässt. Wenn indess ein so gewagtes Sinnbild beim Fort-
schreiten der christliehen Kirchenlehre bald verschwand, so
hielten sich andere, unschuldigere Ausdrucksweisen der alten
Kunst, so innig sie auch mit der heidnischen Naturreligion
zusammenhingen, desto länger. Das Merkivürtligste in dieser
Art sind die Personificationen der Natur, wie sie den Alten
bei ihrer geflissentlichen Beschränkung auf die Menschenge-
stalt geläufig geworden Waren: bis tief ins Mittelalter wird
noch immer hie und da der Fluss durch einen Flussgott, das