Giotto.
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andern Siena. Der Unterschied zwischen beiden Riehtun-
gen beruht vornehmlich darin, dass bei den Florentinern und.
bei den Künstlern, welche ihnen folgten, eine eigenthümliche
Regsamkeit und Rüstigkeit des Geistes sichtbar wird, dass
sie mit lebendig bewusstem Sinn auf das Leben in Seinen
mannigfach wechselnden Erscheinungen eingehen, und das
Verhältniss des Irdischen zum Geistigen, des sinnlichen Da-
seins zum Uebermenschlichen, dem Gebiet ahnungsvoller
Sehnsucht Angehörenden, in reichen dichterischen und alle-
gorischen Darstellungen aussprechen; während die Sieneser
mehr eine tiefe Innerlichkeit des Gefühls offenbaren, die nicht
jenes Reichthums der Gestalten bedarf, die im Gegentheil
(soweit es das Gesetz des gothisehen Styles erlaubt) mehr an
den überlieferten Gebilden festhält, aber diese mit liebevoller
Wärme durchdringt und verklärt. Bei jenen ist es somit das
Gedankcnreiche der Composition und das Streben nach Cha-
rakteristik, bei diesen die seelenvolle Anmuth der einzelnen
Gestalten, was als vorzüglich bedeutend in ihren Werken
erscheint.
Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass das bisher Ge-
sagte in seiner vollkommenen Entschiedenheit nur in einzel-
nen Fällen zur Erscheinung kommen konnt.e, dass dasselbe
mannigfach durch äussere Verhältnisse modificirt werden und
dass namentlich auch ein gegenseitiger Einfluss der beiden
letztgenannten Richtungen auf einander stattiinden musste.
Erstes
Gapitel.
Toskanische
S chulen.
Giotto
und
Nachfolger.
seine
g. 102. An der Spitze jener vorzugsweise dialektischen 1.
oder allegorischen Richtung steht Giotto, der Sohn des
Bondone, der im Jahre 1276 zu Vespignano, in der Nähe
von Florenz, geboren und 1336 zu Florenz gestorben ist.
Es wird erzählt, wie Giotto von Hause aus ein armer Hirten-
knabe gewesendsei; wie Cimabue ihn angetroffen, als er ein