Volltext: Franz Kugler's Handbuch der Geschichte der Malerei seit Constantin dem Großen (Bd. 1)

100. 
Gothisoher Styl. 
331 
Wesen des Christenthums begründet. Das Christenthum 
erkennt in der Welt und ihren Erscheinungen keine selb- 
ständige Gültigkeit an: die Welt stellt es als losgerissen von 
dem göttlichen Geiste dar; aber, dieses Zustandes bewusst, 
habe sie zugleich das ewige Streben, zu ihm zurückzukehren. 
Der Künstler sollte diesen versöhnenden Bezug des Irdischen, 
Vorübergehenden auf das Geistige und Ewige aussprechen. 
Schon in den ersten Kunstübungen der Christen War ein 
solcher Gegensatz herausgetreten, aber wir haben zugleich be- 
merkt, in wie äusserlicher Beziehung derselbe dort noch aus- 
gesprochen war. In der weiteren Entwickelung einer eigent- 
lich christlichen Kunst reichte eine mehr oder weniger will- 
kürliche Symbolik nicht mehr aus: die Darstellung selbst 
sollte Symbol und Inhalt zugleich werden. 
Hiebei nun kam es vor allen Dingen darauf an, dass 
der schaffende Künstler in seiner besonderen Individualität 
bestimmter hervortrete. Nur in dem inneren Bewusstsein 
konnte dieser Bezug der körperlichen Erscheinung auf den 
ewigen Geist klar werden; nur wo die besondere Darstellung 
das Ergebniss einer selbständigen Auflassungsweise war, 
konnte der geistige Inhalt mit ltlreiheit ausgesprochen werden. 
So war das Ziel, welches die Vollendung der Kunst be- 
zeichnen sollte, wiederum weit hinausgerüekt und erst nach 
mannigfachen Entwickelungsmomenten zu erreichen. S0 war 
es zunächst nöthig, dass eine subjektive Richtung in 
vollkommener Einseitigkeit sich geltend mache, dass zuerst 
die Scheidung scharf ausgesprochen werde, ehe man zu einer 
Vereinigung der Gegensätze hinarbeiten konnte. Diese neu 
beginnende subjektive Richtung erscheint nun gepaart mit 
einem Styl der Darstellung, dessen geistige Richtung und 
Gcsetzmässigkeit mit derjenigen der nordischen Malerei we- 
sentlich übereinstimmt, und der somit ebenfalls als ein gothi- 
scher zu bezeichnen ist. Einzelne Spuren weisen selbst darauf 
hin, dass der Norden (wo dieser Styl um ein halbes Jahr- 
hundert früher sich ausbildete) einen gewissen Einfluss auf 
das Emporkommen desselben in Italien ausgeübt habe; na- 
mentlich lässt sich diess in der italienischen Sculptur voraus-
	        
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