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Gothisoher Styl.
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Wesen des Christenthums begründet. Das Christenthum
erkennt in der Welt und ihren Erscheinungen keine selb-
ständige Gültigkeit an: die Welt stellt es als losgerissen von
dem göttlichen Geiste dar; aber, dieses Zustandes bewusst,
habe sie zugleich das ewige Streben, zu ihm zurückzukehren.
Der Künstler sollte diesen versöhnenden Bezug des Irdischen,
Vorübergehenden auf das Geistige und Ewige aussprechen.
Schon in den ersten Kunstübungen der Christen War ein
solcher Gegensatz herausgetreten, aber wir haben zugleich be-
merkt, in wie äusserlicher Beziehung derselbe dort noch aus-
gesprochen war. In der weiteren Entwickelung einer eigent-
lich christlichen Kunst reichte eine mehr oder weniger will-
kürliche Symbolik nicht mehr aus: die Darstellung selbst
sollte Symbol und Inhalt zugleich werden.
Hiebei nun kam es vor allen Dingen darauf an, dass
der schaffende Künstler in seiner besonderen Individualität
bestimmter hervortrete. Nur in dem inneren Bewusstsein
konnte dieser Bezug der körperlichen Erscheinung auf den
ewigen Geist klar werden; nur wo die besondere Darstellung
das Ergebniss einer selbständigen Auflassungsweise war,
konnte der geistige Inhalt mit ltlreiheit ausgesprochen werden.
So war das Ziel, welches die Vollendung der Kunst be-
zeichnen sollte, wiederum weit hinausgerüekt und erst nach
mannigfachen Entwickelungsmomenten zu erreichen. S0 war
es zunächst nöthig, dass eine subjektive Richtung in
vollkommener Einseitigkeit sich geltend mache, dass zuerst
die Scheidung scharf ausgesprochen werde, ehe man zu einer
Vereinigung der Gegensätze hinarbeiten konnte. Diese neu
beginnende subjektive Richtung erscheint nun gepaart mit
einem Styl der Darstellung, dessen geistige Richtung und
Gcsetzmässigkeit mit derjenigen der nordischen Malerei we-
sentlich übereinstimmt, und der somit ebenfalls als ein gothi-
scher zu bezeichnen ist. Einzelne Spuren weisen selbst darauf
hin, dass der Norden (wo dieser Styl um ein halbes Jahr-
hundert früher sich ausbildete) einen gewissen Einfluss auf
das Emporkommen desselben in Italien ausgeübt habe; na-
mentlich lässt sich diess in der italienischen Sculptur voraus-