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Buch II.
Mittelalter.
Italien.
Romanischer Styl.
die Bewegungen des taufenden Johannes, der flehenden Kran-
ken, der forteilenden Jünger in der Gefangennehmung, des
enthauptenden Soldaten scheinen aus einer Phantasie geflos-
sen zu sein, welche sich die lebendigsten und heftigsten Be-
wegungen mit Liebe vergegemvärtigte. Dieser mächtige und
ergreifende Geist offenbart sich auch in den ruhigen Stellun-
gen, vornehmlich in der edlen, grossartigen Würde des Daniel
und der beiden Propheten zu seinen Seiten. lWan sieht. in
diesen Werken den gewaltsamen Kampf, den eine jugendlich
kräftige Phantasie zur Bewältigung der noch todt gegenüber-
stehenden Form beginnt.
ä. 94. Das bisher Gesagte genügt um zu zeigen, dass
das Aufwachen der mittelalterlichen Malerei in Toseana,
dessen Betrachtung wird bis jetzt verschoben haben, keine
vereinzelte Thatsaehe war, sondern dass die verschiedensten
Gegenden Italiens um jene Zeit ein neues Kunstleben auf-
weisen können. Diess muss ausdrücklich hervorgehoben wer-
den, weil die neuern italienischen Kunsthistorilzcr grossen-
theils Toscaner waren und den, allerdings grossen, Einfiuss
ihrer einheimischen Kunst auf die des übrigen Italiens hier
und bei spätem Epochen nicht selten übertrieben (largestellt
haben.
Die Anfänge der toscanischen Malerei selbst liegen trotz
(und zum Theil wegen) vielfacher älterer Forschungen noch
immer im Dunkel, und die neuem Untersuchungen haben
bis jetzt mehr die Verwirrung nachgewiesen als ein positives.
Licht verbreitet. S0 viel scheint sicher, dass Toscana, und
zwar Pisa und Siena wie Florenz, zu Anfang des XIII. J ahr-
hunderts vorherrschend der byzantinischen Kunstweise
folgten, und dass der alte einheimische, rohabendländische
Styl in der Malerei schon vorher so ziemlich verschwunden
warx). Wenigstens ist kein Denkmal bekannt, welches eine
(F) In der Sculptur mag er immer fortgedaizert haben. Ein
Ewultet und eine andere Handschrift in der Opera des Domes von
Pisa (E. Förster, Beiträge zur neuem Kunstgeschichte, 1835, S, 73
u. f.) möchten zu den spätesten Denkmalen desselben aus dem Gebiete
der Malerei und zwar ins XII. Jahrhundert gehören.