Buch II.
Mittelalter.
Der Norden.
Gothischer Styl.
3. Geleitern und der Schaar ihrer Jungfrauen. Der erste Blick
zeigt, dass dieses Werk weit über alle bisherigen Leistungen
der Schule hinausgeht, wobei allerdings nicht zu vergessen
ist, dass wir vielleicht eine Blenge von Gemälden, welche die
Mittelstufen und Uebergänge bilden mochten, nicht mehr be-
sitzen. Dießomposition ist bei allem Reiehthum in gross-
artiger Einfalt angeordnet und bildet, namentlich in der
Haupt-tafel, schöne und wohlthuende Linien, welche den Ein-
druck feierlicher Ruhe hervorbringen. Sodann ist die Kör-
perdarstellung hier bedeutend fortgeschritten; die Gestalten
haben bei all ihrer idealen Auffassung ein sehr sicheres Eiusse-
res Dasein und körperliche Abrundung; es zeigt sich, na-
mentlich in den männlichen Figuren, eine tretfliehe, lebens-
volle Naturalistik; der einzige conventionelle Uebelstand ist
4. die unschöne, gespreizte Stellung der Füsse. Die Köpfe, so-
weit man sie bei dem jetzigen Zustande des Bildes beurthei-
len kann, sind oder waren grossentheils von hoher Schönheit,
manche auch von tiefem, höchst bedeutendem Ausdruck. Am
meisten conventionell und befangen erscheint das Bllügelbild
der heil. Ursula, wo der Ausdruck des kindlich Naiven in
den zahlreich über einander hervorschauenden Nlädchenköpfen
(von einem noch mehr den ältern Meistern entsprechenden,
rundlichen Typus) sich in fast spielender Weise wiederholt;
auch fällt hier ein gewisses Perlgrau in der Carnation am
meisten auf. Grösserer Ernst, Strenge und Derbheit zeigt
sich in dem Flügelbilde des heil. Gereon. Am freisten aber
ist. die Behandlung des Mittelbildes, namentlich in den beiden
höchst würdevollen Gestalten der Könige; der Kopf des grei-
sen knienden Melchior ist insbesondere herrlich gebildet und
von Wunderbarstem Ausdruck; auch die höchst lebendig und
"wahr dargestellten Hände übertreffen alle bisherigen Leistun-
gen in ihrer Art. An dem Idealkopf der Madonna sind lei-
der höchstens die Hauptlinien als ursprünglich zu betrachten;
das Kind zeigt eine edle, von aller Dürftigkeit weit entfernte
Fülle der Gestalt und dabei die zarteste Durchbildung.
Glücklicher Weise ist in dem Aussenbilde der Verkündigung
der Kopf der Jungfrau noch gut erhalten, in Welchem sich