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Buch II.
Mittelalter.
Der Norden.
Gothischer Styl.
g 77. 78.
derselben Schule, nur mit deutlicher ausgesprochenem Gefühle
für die körperliche Existenz zeigen.
Wenn man die Urheber dieser und der folgenden Werke
unter dem Namen der altkölnischen Schule zusammenfasst, so
ist damit keineswegs gesagt, dass es lauter Kölner waren;
vielmehr lässt sich vermuthen, dass die von WVilhelm aus-
gehende Anregung sicli rasch am ganzen inittlern und Nie-
derrhein und in den nähern (liegenden WVestfalens verbreitete
und vielleicht selbst das Entstehen von Filialschulen veran-
lasste (s. unten).
I. ä. 78. Um den Anfang des XV. Jahrhunderts lässt sich
in der kölnischcn Malerei eine neue Entwickelung erkennen,
welche in den Werken des Meisters Stephan, wahrschein-
lich eines unmittelbaren Schülers des Wilhelm, ihren Gipfel-
punkt lindet. Die geistige Richtung bleibt zwar wesentlich
dieselbe, allein sie dringt zu einem reichern, vielartigeren
Ausdruck durch, und zwar nicht ganz ohne Einwirkung von
Seiten der flandrisehen Malerschule, Welche inzwischen auf
dem ganz neuen iVege des Realismus zu einer höchst viel-
seitigen Darstellung des Lebens gelangt war. Doch ist diese
Einwirkung in den kölnischen Gemälden der betreffenden
Epoche keineswegs das Vorherrschende; sie lässt sich höch-
stens in einzelnen Aeusserlichkeiten, z. B. in der Behand-
lung gewisser Gewandstoffe, u. dgl. sichtbar festhalten, wäh-
rend die Sinnesweise des Malers durchaus der alten Tendenz
zugethan bleibt. Einige besondere Veränderungen in Colorit
und Formenbildung gehören sicher keinem ausländischen Ein-
tluss, sondern der innern Weiterbildung des Schultypus an;
so die etwas kürzern Verhältnisse des Körpers, die vollkomm-
nere (namentlich weniger runde) Bildung des Kopfes, die
häufigere Anwendung des Zeitcostüms, u. a. m. Das Wich-
tigste aber war, dass in die bei YVilhelm noch sehr allgemei-
nen und wenig abwechselnden Physiognomien eine grössere
individuelle Tiefe und Verschiedenheit kam, ohne doch dem
Ausdruck überirdischer Schönheit und Heiligkeit Eintrag zu
thun, sodass die Werke des Stephan, des zweiten und wich-
tigem Hauptmeisters der Schule, gradezu als das Höchste