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Buch II. Mittelalter. DerNorden. Gothisclaer Styl.
äve.
eine vollkommen organische und lebendige Handhabung der
Menschengestalt hat vor Lionardo da Vinci wohl nirgends
stattgefunden, allein schon die Nürnberger Schule besass
wenigstens eine ziemliche Kenntniss der Hauptformen und
Dimensionen des Kopfes und der Extremitäten, während die
Kölner Maler hier in einer grossen Willkür befangen blieben.
Stirn, Nase, Mund und Augen wollen in ihrer Form und
Lage sehr oft zu dem ganz eigenthümlich rundlichen Umriss
des Kopfes nicht stimmen, und selbst wo der Schönheitssinn
und die psychologische Intention des Einzelnen, wie z. B. im
vorliegenden Fall, dennoch den Sieg davonträigt, blickt der
Mangel noch immer deutlich genug durch. Auch die Hände
sind in dieser Schule (und selbst in diesem sonst so schönen
Bilde) ohne Verhältniss und von befremdlicher Dünne der
Finger, die Arme durchgängig zu kurz. Ebenso ist in den
Figuren der HH. Katharina und Barbara auf der Innenseite
der Flügel bereits eine dem WVilhelm und seiner Schule
eigene Schmächtigkeit des Körpers zu bemerken, welcher bis-
weilen wie in der Mitte geknickt erscheint Die Aussen-
seite der Flügel enthält eine Verspottung Christi auf schwar-
zem Grunde, offenbar von derselben Hand, durchaus leicht
und kühn hingeworfen; die bizarren Gestalten der Wider-
a4. sacher offenbaren ein derb naturalistisches Streben. Eine
Tafel des Berliner Museums, welche auf 35 kleinen Feldern
die Geschichte Christi (auf dem letzten die Donatoren) ent-
hält, stimmt mit diesem Aussenbilde so sehr überein, dass sie
demselben Maler zugetheilt werden muss. Die Behandlung
ist leicht, ja beinahe skizzenhaft und hie und da sehr unbe-
stimmt, das Ganze jedoch reich an guten Motiven, nament-
5. lieh in der Gewandung. Ferner hat dieselbe Hand einen
bedeutenden Theil gehabt an dem grossen sog. Clarenaltar
ü) Es ist hier ausdrücklich hervorzuheben, dass diess nur von der
frühern Periode der Schule gilt, nicht aber von Meister Stephan und
seinen Nachfolgern, welche einigermassen von der inzwischen empor-
gekominenen flandrischen Malerei influenzirt wurden und schon an
sich eine neue Entwickelung innerhalb der Schule ausmachen.