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Buch II.
Mittelalter.
Der Norden.
Gothiseher Styl.
B. Zweite Hälfte des XIV. und
Jahrhunderts. .Der entwickelte
Anfang desbXV.
gothische Styl.
ä. 70. Im Verlaufe des XIV. Jahrhunderts offenbaren
sich die Anfänge einer Zersetzung des mittelalterlichen Wen
sens, welche in dem grossen kirchlichen Sehisma, in der von
der Kirche abseits liegenden Staatenpolitik, in der schärfßrn
Entwickelung der westeuropäischen Nationalitäten durch hun-
dertjährige Kämpfe und in dem Emporkommen rein welt-
licher Interessen im ganzen Abendlande eine sichtbare Ge-
stalt gewinnt. Es wird 'W0hl nicht zu gewagt erscheinen,
wenn wir ein kunstgeschichtliches Phänomen mit dieser gros-
sen Wendung der Weltereignisse in Verbindung bringen,
nämlich das erste entschiedene Auseinandergehen der Malerei
in verschiedene Schulen, worauf sehr bald innerhalb dieser
letztem auch die einzelnen Malerindividualitäten sich kennt-
lieh machen. Als äusseres Moment kam freilich, wie oben
(g. 65.) angedeutet wurde, das Ueberhandnehmen der selbst-
ständigen Tafelmalerei hinzu, welche die Schulen und die
einzelnen Künstler zur möglichst vielseitigen Darlegung all
ihrer durch Erfahrung gewonnenen, also subjectiv verschiede-
nen Praxis nöthigte, sodass schon daraus für unsere An--
schauung wenigstens verschiedene Manieren sich ergeben
müssten Ungleich wirksamer aber war ohneZweifel der
geistige Umschwung, der sich in dieser Kunstepoche voll-
zieht. Die Kirche beherrscht die Geister nicht mehr so wie
früher und wenn sie auch die Kunst fortwährend fast aus-
schliesslich in ihrem Dienste behält, so hat doch der Maler
neben der Verherrlichung der kirchlichen Idee jetzt noch ein
anderes, wenn auch nur halbbewusstes Ziel: die Geltend-
machung seiner Mittel, ja in gezvissem Sinne seiner
Virtuosität; es erwacht in ihm eine selbständige Freude an
seiner Arbeit als solcher, und mehr und mehr wird er. dahin
geführt, sie mit subjectiven Zügen auszustatten. Allerdings
tragen dieselben Anfangs noch ein solches Gepräge von Kind-
lichkeit und einfacher Anmuth, dass der Besehauer oft gerade
hier die höchste Stufe der religiös begeisterten Kunst zu