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Buch II. Mittelalter. Der Norden. Gothischer Styl.
9. Unter den Handschriften der kaiserl. Bibliothek zu Paris
befinden sich mehrere der wichtigsten Denkmäler dieser Gat-
tungle). Eine französische Uebersetzung der Apokalypse (um
1250) zeichnet sich durch energisch-phantastische Erfindung
und übertriebene Bewegungen aus; auch sind hier die Wider-
sacher und Verruchten in der oben erwähnten carrikirten
Weise durch krumme Nasen und weite Mäuler kenntlich ge-
10.macht. Ein bilderreicher Psalter (gegen 1300) zeigt auf
interessante Weise das Bestreben, die alttestamentlichen Vor-
gänge zu unmittelbarer Verständlichkeit zu führen, indem
Abraham und seine Krieger als gepanzerte Ritter, Melchi-
sedek als würdiger Bischof mit Hostie und Kelch gebildet
sind; meisterlich ist besonders die Zeichnung und Charak-
ILteristik der Thicre in Noahs Arche. Das "Leben des heil.
Dionysius" (gegen 1320) ist durch zierliche Ausführung, sinn-
vollen Ausdruck und einzelne sehr poetische Erfindungen be-
deutend, wenn z. B. Dionysius als gottbegeisterter Autor am
Pulte schreibt, während über ihm neun Engelchöre und die
Personen der Dreieinigkeit erscheinen, oder wenn ihn nach
seiner Enthauptung, da er sein Haupt in den Händen trägt,
zwei Engel geleiten. Flüchtiger sind die Miniaturen in
einem von 1340 datirten französischen Gedichte: les voeux du
12, paon. Ein Codex des roman de 1a rose, im Jahr 1365 für
den Herzog von Berry ausgeführt, zeigt in den Köpfen schon
beginnende IndiVidlIlEllitätmF). Der umdiese Zeit sich kund
gebenden niederländischen Einwirkung auf den gothisch-
französischen Styl werden wir am Ende dieses Abschnittes
eine besondere Betrachtung zu widmen haben.
1. g. 59. England war in manchen geistigen Beziehun-
a) Waagen a. a. O. IIl., S 299 u. f.
M) Andere französische Miniaturen vom Ende des XITI. Jahrhun-
derts theilt D'Aginc0urt Taf. 70 und 71 aus vaticanischen Handschrif-
ten mit; darunter eine für Clugny verfertigte Weltgeschichte, mit Bil-
dern von sehr strengem gothischen Styl, andere aus Reirnchroniken
u. s. w. Bei einer vor lauter Unbeholfenheit bisweilen wahrhaft skur-
rilen Einzeldarstellung lassen sich doch die edlen Grundzüge des go-
thischen Styles nicht verkennen.