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Buch II.
Mittelalter.
Der Norden.
Romanischer Styl.
der Dombibliothek zu Trier (Kesselst. Vermächtniss V.)
zeichnet sich durch höchst phantastische Initialverzierungen
aus, welche ausser Drachen, wilden Männern, Centauren
u. s. W. auch kleine Medaillons mit historischen Scenen ent-
halten; ein anderes vorzüglicheres Evangelium derselben Samm-
lung (um 1200; Kessclst. Verm. II.) erinnert in der Behand-
lung theils an den Hortus deliciarilm", theils an den Weingartner
Psaltcr und zeigt z. B. bei einer Darstellung des Weltgerichtes
in den Gruppen der Wehklagendeil Verdammten schon ein
grossartig bewegtes Gefühl und Formensinn im Nackten.
Vier andere ebendort aufbewahrte Evangelienbücher (Kesselst.
Verm. IV, VII, VIII, IX) sind noch aus dem XII. Jahr-
hundert und von roherer Arbeit, Wobei Einzelnes sogar noch
9- auf angelsächsischen Einfluss hindeutet. Die kaiserl.
Bibliothek in Paris besitzt ein mainzisches Pontificale vom
Jahre 1183, ein Psalterium vom Anfange des XIII. Jahr-
hunderts, welches ebenfalls aus Deutschland stammt, und drei
Handschriften niederländischer Herkunft, Worin die feine Be-
handlung der Farben und Schatten und die malerisch durch-
geführten Einzelheiten auf eine frühe Ausbildung des nieder-
ländischen Farbensinnes hindeuten: eine Bibel, ein Legen-
darium und eine lateinische Uebersetzung des Josephus.
Letztere enthält in ihren Initialen schon einzelne von jenen
skurrilen Darstellungen, Welche später dem niederländischen
Humor so trefflich zusagten, z. B. einen Esel, Welchem ein
Mann eine Harfe vorhält.
10- In Frankreich, wo das XII. Jahrhundert eine schnelle
Entwickelung des Staates, das Emporkommen der Städte, die
höchste Blüthe der provenzalischen Dichtkunst und das Eut-
stehen der gothischen Architektur umfasste, könnte man auch
in der Malerei einen gewissen Aufschwung erwarten. Für
die Miniaturarbeit insbesondere musste das Aufkommen der
Universität Paris als eines Mittelpunktes für alles Bücher-
wesen von Bedeutung sein. Indess sind die erweislich aus
der letzten Hälfte des XII. und dem Anfang des XIII. Jahr-
hunderts stammenden Codices der kaiserl. Bibliothek von
Paris (eine Bibel, die Chronik von Cluny, ein Psalter, und