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Buch II.
Mittelalter.
Der Norden.
Romanischer Styl.
zehnde seinem Höhepunkte zu: es nahte die Blüthezeit der
kirchlichen Macht und des Ritterthums, die höchste Aus-
bildung des romantischen Geistes in Leben, Poesie und
bildender Kunst. Das Resultat für die Malerei zeigt uns
allerdings erst die folgende Periode,sallein die Anfänge haben
wir schon hier in Erwägung zu ziehen. Zunächst zeigt sich
als Grundlage der Kunst ein grösserer Reichthum des äussern
Lebens. Das Auge des Künstlers öffnet sich jetzt für die
Fülle der umgebenden Erscheinungen, und sorglich, wenn
gleich häufig noch mit kleinlicher Aengstlichkeit, bestrebt er
sich, das Einzelne in seiner Eigenthümlichkeit und seinem
Zusammenhangs nachzubilden. Die Menschen, wie sie ihn
umgeben, unterschieden nach Rang und Gewerbe, den
lustigen Waffenschmuck der Krieger und den prächtigen
Putz der Frauen, gegenseitigen Verkehr, Handel und Wandel,
die Stimmungen des Gemüthes, wie sie sich in Stellung und
Geberde aussprechen, die Gewalt der Leidenschaft und die
Stille der Betrübniss sucht er unsern Augen vorzuführen,
und trotz seiner höchst unzulänglichen Kunstmittel, trotz
allen Mangels an entschiedener und durchdringender Be-
lebung, gelingt es ihm insgemein, seine "Absichten klar und
deutlich auszusprechen. Die phantastisch-dramatische Rich-
tung, deren Anfang wir schon früher beobachtet, gelangt jetzt
zu grösserer Entwickelung, zu vielseitigerem Ausdruck, und
durch künstlerische Behandlung weltlicher Gegenstände,
namentlich der Sagen zu einem grössern Spielraum. Da-
bei werden heilige und profane, biblische und legendarische,
poetische und historische Scenen mit einer beneidenswerthen
Naivetät von den Malern im Costüm ihrer Zeit vorgetragen.
Zugleich beginnt die Körperform, wenn auch noch immer die
Motive des romanischen Styles vorherrschen, jenes architekto-
nische Gesetz zu verlassen, es wird wenigstens das Streben
sichtbar, sie in den allgemeinen Bezügen ihres organischen
Zusammenhanges zu erfassen; die enggefaltete Gewandung
fängt an, sich mehr den Formen des Körpers zu bequemen
und seinen Bewegungen zu folgen; es fehlt endlich nicht an
mannigfaltigen Zeugnissen eines auf Schönheit, Anmuth und