Zweites
Buch.
Die
Kunst
des
Mittelalters.
g. 36. Die Völkerwanderung und die Gründung germa-
nischer Staaten auf dem Boden des ehemaligen Römerreiches
hatte seit dem V. Jahrhundert der Welt eine neue Gestalt
gegeben. Je nachdem die unterworfene römische Bevölkerung
noch zahlreich oder nur in geringer Minderzahl vorhanden
war, bildeten sich die verschiedenen Mischungen zu mehr ro-
manischen oder mehr germanischen Staaten; in erstern trat
der Sieger, wenn er dazu befähigt war, noch in das unmit-
telbare Erbe der alten Welt, auch in ihre Bildung und Kunst.
ein; in letztern bedurfte es längerer Zeit und anderweitiger
Einwirkungen, um zu einem neuen Kunstleben zu gelangen;
denn eine eigene Kunstüberlieferung hatten die Germanen
aus ihrem bisherigen Zustande nicht hinzugebracht, vielmehr
nur eine Anlage, zu deren vollständiger Entwickelung noch
eine Reihe von Jahrhunderten nöthig war. Rasch gewinnen
ihre Staaten Organismus und Physiognomie; langsam nur
entfaltet sich ihre Kunst, trotz massenhafter Ausübung, und
ehe sie irgendwie sich von der letzten Einwirkung der An-
tike losmacht, sind schon grosse politische Perioden abgelau-
fen. Erst in der zweiten Hälfte des Mittelalters tritt der
germanische Geist mit jugendlicher Frische in einer Kunst-
übung hervor, welche sein volles Eigenthum ist.
Die Richtung aber, welche er jetzt einschlägt, ist eine
längst vorbereitete und nothwendige. Die Kirche war es,