Neugrieohen.
Die Praxis.
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alle abendländische Praxis weit übertreffenden Schnelligkeit
in einigen Tagen eine ganze Kirche ausmalen kann; nur
fragte es sich, welches die innern Bedingungen dieser Pro-
ductionskraft seien, und dieses Rathsel löste sich allgemach.
Die neubyzantinischen Maler bedürfen nämlich durchaus kei- 5,
ner eigenen Gedankenarbeit mehr; nicht nur der Kreis ihrer
Gegenstände, sondern auch die gesammtc Darstellungsweise
bis in alle Aeusserlichkeiten hinein ist ihnen durch Herkom-
men und alte Muster fertig und vollständig vorgeschrieben.
Sie beginnen mit Durchzeichnungen nach den Werken ihrer
Vorgänger und lernen nach und nach alle vorkommenden
Compositionen und Figuren sammt den einzelnen Inschriften
so weit auswendig, dass sie, wie jener Maler Joasaph, flink
und ohne alles Besinncn aus dem Gedäehtniss arbeiten kön-
nen. Eigene Genialität, Geltendmachung des Individuellen
wäre hier nur hinderlich und würde weder verstanden noch
anerkannt; auch vergisst man in Griechenland einen Maler,
und wenn er fünfzig Kirchen ausgemalt hätte, sehr rasch,
weil seine Persönlichkeit mihseinen Werken gar nichts zu
thun hat, weil er nur der Kanal eines Allgemeingültigen ge-
wesen ist. Allerdings klagen die Maler des „heiligen Ber-
ges" (Hagion Oros) selbst über die jetzige Schnellmalerci als
über eine Verderbniss und Weisen mit Bedauern auf die gu-
ten Zeiten hin, da man nicht etwa selbst erfand! sondern
nur lieissiger und gründlicher copirte als gegenwärtig.
Es offenbart sich hier ein gründlicher Unterschied zwi- 6.
sehen der byzantinischen und der abendländisah-mittelalter-
lichen Kunst. Auch letztere hielt sich in ihren kirchlichen
Darstellungen bis zum XIV. Jahrhundert an gewisse Compo-
sitionen und Motive, im Einzelnen an gewisse Typen, welche
beständig wiederkehren, und man kann wohl annehmen, dass
hiedurch wie im Orient die massenhafte Production, deren
man zum Schmuck riesiger Domkirchen bedurfte, sehr er-
leichtert wurde und dass aus demselben Grunde die einzelnen
Individuen und ihre Namen so selten bekannt sind. Allein
der abendländische Künstler behielt nicht nur, wenn er wollte,
eine grosse Freiheit in der Anordnung, sondern er gestaltete