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Buch I.
Christl. Alterthum.
Byzantinischer Styl.
ä. 24. Jetzt hat der Künstler nur noch eine ganz äusser-
liche und lückenhafte Vorstellung vom Organismus des Kör-
pers und findet sich mit einer conventionellen, aller Wirklich-
keit entfremdeten Darstellung desselben ab. Die Figuren
werden lang und mager, ihre Haltung steif und eckig, Hände
und Füsse lang und kraftlos. Mit diesem gänzlichgn Abfall
von der Natur bildet ein sonderbarer Anspruch auf anato-
mische Genauigkeit den Widerwiirtigsten Gegensatz; Gestalten,
bei welchen kein Glied mehr richtig am andern hängt, haben
doch, soweit das Nackte sichtbar ist, die genaue Zahl ihrer
Rippen und an den Armen ganz unnöthige Bluskeln. Wie
sehr aus dem Ganzen jegliche Kraft gewichen, zeigt die mög-
lichste Beschränkung auf ruhige Stellungen; wo aber nur die
geringste Bewegung, und wäre es bloss ein Schritt, bezeich-
net werden muss, scheinen diese Gestalten auf ebener Erde
zu strauchcln. Oft wird sogar der Fussboden weggelassen,
so dass sie auf ihrem Goldgrunde in der Luft stehen, wenn
der Maler nicht durch ein kleines Postament oder Schemel-
chen ausgeholfen hat. In vielen Fällen glaubt man nicht
mehr Gestalten, sondern halbbelebte Leichen vor sich zu
sehen, und dieser gespensterhafte Eindruck wird fast unab-
weislich bei Betrachtung der Köpfe. Hier zeigt sich auf
den ersten Blick, dass ein neues Verhältniss zwischen Maler
und Bild eingetreten ist. Wenn in den bisher betrachteten
spätrömischen WVerken, wie eng auch die Bande des kirch-
lichen Typus den Künstler umschliessen mochten, doch noch
mit einer gewissen lfreiheit nach dem Erhabenen, selbst nach
dem Schönen gestrebt wurde, so ist jetzt das Ziel der Kunst
selber entschieden von der Stelle gerückt. Der Künstler ist
jetzt meist ein Mönch f) und als solcher dem Leben gegen-
Bibelhandschrift mit Miniaturen aus dem XIV. Jahrhundert als Beleg
für eine „anscheinende Wiedergeburt" in der damaligen byzantiuischgn
Kunst benutzt wird, während der erste Blick zeigt, dass wir die Copie
einer vortrefüiclien uralten Arbeit vor uns haben, die dem oben be-
sehriebenen "Josua" wenig nachstellen möchte.
a) Ob Kaiser Constantin Porpliyrogenitus (X. Jahrhundert) die
Malerei als Zeitvertreib oder als Andachtsübung erlernt hatte, ist 1m-
gewiss. Vgl. Liutprand, Antapod. 111., 37.