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Untersuchung
des
Schott.
Geistes
eine ausgezeichnete Stelle in der Geschichte der Pathologie gesichert
hat. Durch sein Bestehen auf der Wichtigkeit des Soliden corrigirte
er bei all seiner Einseitigkeit die gleiche Einseitigkeit seiner Vor-
gänger; denn mit äusserst wenigen Ausnahmen hatten alle die
Pathologen seit Galen den Irrthum begangen, den Flüssigkeiten zu
viel Gewicht beizulegen und eine blose Pathologie der Säfte an-
genommen. Cullen wandte die Blicke der Menschen nach der
anderen Richtung; und obgleich er mit seiner Lehre, das Nerven-
system sei der einzige ursprüngliche Sitz der Krankheit, einen
grossen Irrthum beging, war dies doch ein sehr heilsamer Irrthum.
Er stellte dadurch das Gleichgewicht wieder her. Und ich glaube
daher, dass er indirect die genauen Untersuchungen der Nerven
beförderte, mit denen er sich selbst nicht aufhalten wollte, die aber
in der nächsten Generation zu den vortredlichen Entdeckungen von
Bell, Shaw, Mayo und Marshall Hall Veranlassung gaben. Um
dieselbe Zeit war die alte Humoral-Pathologie, welche so viele
Jahrhunderte geherrscht hatte, praktisch verderblich; denn durch
die Annahme, dass alle Krankheiten im Blute lagen, brachte sie
beständige und rücksichtslose Ader-lasse zuwege, die unzähligen
Menschen das Leben kosteten, ausser dem körperlichen und geistigen
Schaden, den sie anrichteten; denn die sie nicht ums Leben bringen
konnten, schwachten sie wenigstens. Gegen diese unbarmherzigen
Angriffe, welche die Medicin zum Fluch der Menschheit machten,
war die Solidar-Pathologie der erste wirksame Einhalt. m) Prak-
tisch und speculativ müssen wir daher Cullen als einen grossen
Wohlthater des Mensehengeschlechts begrüssen und seine Erscheinung
925) D1'. Watson (Princzßlcs und Pmctice of Plzysic, 4th edit. London 1857, I, 41)
sagt von der Humoral-Pathologie: „the absurdity of the hypotheses, and still more
UM dangcrous practice wlzxiclt this dactrine generated, began to be manifest, and led to
its total abandonment." Aber mit aller Achtung vor Dr. Watson wage ich zu bemerken,
dass dieser seiner Ansicht die ganze Geschichte des menschlichen Geistes widerspricht.
Es giebt keinen Fall, wo man nachweisen könnte, dass irgend eine Theorie wegen
gefährlicher Folgen aufgegeben worden wäre. So lange eine" Theorie geglaubt wird,
werden die Menschen ihre üblen Folgen irgend einer Ursache, nur nicht der richtigen
zuschreiben. Und eine einmal begründete Theorie wird immerfort geglaubt werden,
bis eine Aenderung im Wissen eintritt, die ihre Fundamente erschüttert. Jede praktische
Aenderung lässt sich durch genaue Analyse als in erster Instanz von einer Aenderung
in speculativen Ansichten abhängig nachweisen. Selbst jetzt hegt man noch manche
Lehren in den civilisirtesten Ländern, die gefährliche praktische Folgen hervorbringen
nnd dies Jahrhunderte Lang gethan haben. Aber der Schaden, den die Doctrin stiftet,
schwächt die Doctrin selbst nicht. Das kann nur ein allgemeiner Fortschritt des
Wissens; er ändert zuerst die Ansichten, dann das Verhalten der Menschen.