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des
Untersuchung
Schott.
Geistes
zu empfehlen, für welche selbst unsere Wissenschaft noch nicht
reif ist, welche aber zu seiner Zeit so überaus vorschnell und
unzeitgemäss war, dass ihre Annahme durch einen Mann von so
kräftigem Verstande sich durch nichts erklären lasst, als durch
den Umstand, dass er in einem Lande lebte, wo diese Methode
die Oberherrschaft hatte.
Cullen handhabte nun, das muss man allerdings zugestehen,
die Methode mit vielem Talent besonders in ihrer Anwendung auf
die Pathologie, für die sie viel besser passte als für die Therapie,
die eine Kunst und keine Wissenschaft ist. Denn wir müssen
immer festhalten, dass die Wissenschaft, welche die Gesetze der
Krankheiten aufsucht, von der Kunst, sie zu kuriren, ganz ver-
schieden ist. Die Wissenschaft hat ein speculatives Interesse,
welches von allen praktischen Rücksichten frei ist und einzig von
der Thatsache abhängt, dass die Wissenschaft, wenn sie vollendet
ist, die Abweichungen der ganzen organischen Welt erklären wird.
Die Pathologie will die Ursachen erkennen, welche jede Abweichung
von dem natürlichen Typus einer Form oder einer Function be-
stimmen. Daher kommt es, dass Niemand einen umfassenden Blick
auf den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft werfen kann,
ohne die theoretischen Beziehungen zwischen Pathologie und anderen
Fächern der Forschung zu studircn. Dies ist nicht das Geschäft
von Praktikern, sondern von wissenschaftlichen Männern im engern
Sinne. Der wissenschaftliche Patholog ist von dem Arzte so
verschieden, als der Rechtsgelehrte von dem Advocaten oder ein
Agricultur-Chemiker von einem Landmann, oder ein politischer
Oekonom von einem Staatsmann, oder ein Astronom, der die Gesetze
der Himmelskörper aufstellt, von einem Seekapitän, der sein Schiff
nach der praktischen Anwendung dieser Gesetze steuert. Beide
Arten von Functionen können vereinigt sein, und gelegentlich,
wenn auch sehr selten, sind sie es; aber es ist keine Nothwendig-
keit vorhanden, dass sie es seien. Während es daher eine absurde
Unverschämtheit sein würde, wenn einer, der nicht dem ärztlichen
Fach angehört, Cullen's therapeutisches System beurtheilen wollte,
so ist es ganz in der Ordnung, dass jeder, der die Theorie dieser
Gegenstände studirt hat, sein pathologisches System untersuche;
denn dies muss wie alle wissenschaftlichen Systeme sich auf
allgemeine Gedanken ziehen lassen, welche zum Theil von den
angrenzenden Wissenschaften, zum Theil von der allgemeinen Logik
der philosophischen Methode herzunehmen sind.