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während
J ahrh.
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Sklaverei damit verdecken, dass sie ihre Theorie einen nothwendigen
Glauben nennen. Es muss daher für einen hervorragenden Beweis
von Cullen's Liebe zum deductiven Philosophiren gelten, dass er
trotz seiner Scharfsichtigkeit und Klarheit dachte, in einer so prak-
tischen Wissenschaft als der Medicin könne die Theorie ohne
Schaden der Praxis vorauf gehen. Denn es ist ganz gewiss wahr,
die Geister der Menschen sind im Durchschnitt so gebildet, dass
die Theorie der Praxis nicht vorhergehen kann, ohne sie zu be-
herrschen. Es ist eben so wahr, dass eine solche Herrschaft
schädlich sein muss; selbst jetzt ist die Behandlung der Krankheit
trotz unserer grossen Fortschritte in der pathologischen Anatomie,
in der organischen Chemie und in der mikroskopischen Unter-
suchung sowohl der flüssigen als festen Bestandtheile des Körpers
weit mehr eine Frage der Kunst als eine Frage der Wissenschaft.
Was die ausgezeichnetsten Aerzte hauptsächlich charakterisirt und
ihnen wahre Ueberlegenheit giebt, ist nicht sowohl der Umfang
ihres theoretischen Wissens, obgleich" auch dieses oft sehr be-
deutend ist, sondern es ist der scharfe und feine Blick, welchen
sie theils ihrer Erfahrung, theils einer natürlichen Schnelligkeit
verdanken, womit sie Analogien und Unterschiede auffassen, welche
dem gewöhnlichen Beobachter entgehen. Ihr Verfahren ist eine
Art schneller und in gewissem Grade unbewusster lnduction. Und
aus diesem Grunde sind die grössten Physiologen und Chemiker
unter den Aerzten natürlich nicht die besten Praktiker. Ware die
Medicin eine Wissenschaft, so würden sie es immer sein. Weil
aber die Medicin noch immer wesentlich eine Kunst ist, so hängt
sie hauptsächlich von Eigenschaften ab, die jeder Praktiker sich
selbst erwerben muss und aus keiner wissenschaftlichen Theorie
erlernen kann. Die Zeit für eine allgemeine Theorie ist noch nicht
gekommen, und es werden wohl noch viele Generationen vergehen,
ehe sie kommt. Es ist daher nicht nur praktisch gefahrlich, son-
dern auch logisch falsch anzunehmen, dass eine Theorie der Krank-
heit als eine Sache der Erziehung dcr Behandlung der Krankheit
vorausgehen müsse. Die praktische Gefahr der Sache gehört hier
nicht her, aber ihre logische Seite ist eine merkwürdige Beleuchtung
der Leidenschaft für systematisches und dialektisches Philosophiren,
welche den Schottischen Geist charakterisirte. Sie zeigt, dass
Cullen in seinem Eifer von Principien auf Thatsachen zu schliessen,
statt umgekehrt von den Thatsachen zu den Principien hinaufzu-
steigen, im Stande war, in der wichtigsten aller Künste eine Methode