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Schott.
Untersuchung des
Geistes
durch kühne und furchtlose Ausübung ihrer Hauptverrichtungen.
Diese sind von zweierlei Art: die eine vermehrt das Glück des
Geistes, die andere das körperliche Wohlsein. Wenn wir uns einen
vollkommenen Menschen vorstellen wollen, so müssen wir annehmen,
dass er beide Formen der Glückseligkeit im höchsten Grade in sich
vereinige und aus seinem Körper und aus seinem Geiste jeden Genuss
entnehme, der mit seinem Wohl und mit dem Wohl Anderer bestehen
kann. Da sich ein solches Ideal aber nicht voriindet, so ereignet es
sich fortdauernd, dass selbst die Weisesten unter uns das Gleich-
gewicht nicht aufrecht zu erhalten vermögen, und wir fehlen, theils
indem wir dem Körper, theils indem wir dem Geiste zu viel nach-
geben. Wenn wir beide Arten der Befriedigung mit einander ver-
gleichen, so leidet es keinen Zweifel, dass die intellectuellen Ver-
gnügungen in mancher Hinsicht über den physischen stehen; sie
sind zahlreicher, vielfältiger, dauernder und veredeln uns mehr;
sie werden dem Einzelnen Weniger leicht zum Ueberdruss und
bringen mehr Gutes für das Menschengeschlechthervor. Aber für
Einen, der intellectueller Genüsse fähig ist, giebt es mindestens
hundert, die physischer Genüsse fähig sind. Das Glück sinnlicher
Genüsse breitet sich also über ein grösseres Feld aus und be-
friedigt in einem gegebenen Zeitpunkte eine grössere Anzahl Per-
sonen, als es die andere Form des Genusses vermag, besitzt daher
eine Bedeutung, welche Viele, die sich Philosophen nennen, nicht
anzuerkennen geneigt sind. Nur zu oft haben philosophische und
speculative Denker durch eine thörichte Verwerfung solcher Ver-
gnügungen Alles gethan, was in ihrer Macht stand, das Maass des
Glücks, dessen die Menschheit fähig ist, zu verkürzen. Diese
Schriftsteller vergessen, dass wir so gut Körper als Seelen haben,
und vergessen ebenfalls, dass in der bei weitem grössten Mehrheit
von Fällen der Körper mehr als der Geist in Thätigkeit ist, dass
er mächtiger ist, dass er eine augenfalligere Rolle spielt und zu
grösseren Thaten sich eignet; und darum begehen sie den unge-
heuren, Irrthurn, die Klasse von Handlungen zu verachten, zu der
99 Menschen aus jedem Hundert am aufgelegtesten und am ge-
schicktesten sind. Und weil sie diesen Irrthum begehen, so werden
sie damit bestraft, dass ihre Bücher nicht gelesen, ihre Systeme
nicht beachtet und ihre Lebensart vielleicht von wenigen einsamen
Gelehrten angenommen wird, von der grossen Welt der Wirk-
lichkeit aber ausgeschlossen bleibt, weil sie sich für diese nicht
eignet und in ihr das ernstlichste Unheil anrichten würde.