Nationale
Eigenthümlichkeit.
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der grosse Reiz des Einzelnen. In den Gegenden, wo Ueberiiuss
an antiken Fragmenten vorhanden war, hatten die Bauleute die
Gelegenheit und gewissermaassen die Pflicht, sich in geschmack-
voller Zusammenstellung derselben zu üben. Aber auch, wo es
daran fehlte, Wusste man, mit einem eigenthümlichen nationalen
Talente, durch Verbindung verschiedener Materialien, oft der ein-
fachsten Art, durch wechselnde Lagen verschiedener Steine, oder
auch von Ziegeln und Steinen den Wandflächen oder Bögen mit
Wenigen Kosten einen grossen Reiz zu geben. Zu dieser mehr
durch die Farbe wirkenden Decoration kommt dann die Neigung
zu plastischer Ausstattung bald mit rein architektonischen Orna-
menten, bald mit schon kunstreicheren aus dem Pflanzen- oder
Thierreiche entlehnten, und endlich mit selbstständigen Reliefs und
andern Bildwerken, Welche durch das vortreffliche Material des
Marmors begünstigt wurde, aber doch ihre Wurzel in der ganzen
Anlage und Richtung der Nation hatte. Anfangs, so lange die
Leitung der Bauten in den Händen gewöhnlicher Maurer und
Steinarbeiter war, führte diese plastische Neigung zu einem Wil-
den phantastischen Spiel, später aber, bei wachsender Civilisation
und Verschönerungslust, veranlasste sie die städtischen Obrigkei-
ten, die Meister, denen sie die Leitung der Öffentlichen Pracht-
bauten anvertrauten, am liebsten aus der Zahl derer zu nehmen,
die sich als Bildhauer ausgezeichnet hatten. Die Verbindung
beider Künste War hier die umgekehrte wie in den nordischen
Ländern; in diesen gingen die Bildner aus den Bauhütten hervor,
hier die Baumeister aus den Bildhauerwerkstätten, und diese ver-
schiedene Herkunft und Vorbildung der Meister gab denn auch
der Architektur selbst eine andere Richtung. Sie gewann durch
den Einfluss dieser angesehenen Künstler eine höhere künstle-
rische Durchbildung, aber nicht. im eigentlich architektonischen
Sinne. Zu jener Selbstlosigkeit, die nur nach dem gemeinsamen
Ziele strebt und die eigne Individualität unterordnet, konnte derPla-
stiker sich nicht entschliessen, da iniseiner Kunst grade das Indivi-
duelle den WVerth bestimmt. Die höchsten Ziele architektonischen
Strebens erreichten sie daher nicht in dem Grade wie ihre nordi-
schen Kunstgenossen. Aber dafür bewegen sie sich freier, origi-
neller, energischer. Während die nordischen Meister immer nur