Nationale
Eigenthümlichkeit.
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viduum sofort inis Auge. Der Baum als solcher individualisirt
sich ihnen und sie sind daher vor Allem bemüht, die Beziehungen
seiner Dimensionen und seiner wesentlichen Abtheilungen klar
und ausdrucksvoll festzustellen. Ihr musikalisches Talent tritt
hier in der Architektur zuerst hervor.
Daneben macht sich dann die plastische Richtung geltend.
Ihr feines Gefühl für das Einzelleben, für die Schönheit der mensch-
lichen Gestalt und für die verwandten und vorbereitenden Züge der
Thier- und Pflanzenwelt äussert sich in günstigster Weise in der
Anmuth und in dem lebensvollen Reichthume des Schmuckes, so
wie in der unbefangenen Einfügung desselben in die Raumver-
hältnisse.
Im Allgemeinen also und in den Einzelheiten offenbart sich
der italienische Sinn in seiner liebenswürdigen und bedeutenden
Eigenthümlichkeit. Aber zwischen diesen beiden Extremen fehlt
meistens die befriedigende Vermittelung. Vermöge ihres scharfen
praktischen Verstandes und der treflliehen Materialien, Welche das
Land bietet, bauen die Italiener mit untadelhafter Solidität, selbst
mit grosser Kühnheit, aber die Anforderung einer organischen
Einheit des Ganzen und seiner Theile, die Nothwendigkeit, aus
dem Allgemeinen das Besondere, aus den Raumverhältnissen und
stofilichen Bedingungen die constructive Gliederung und aus die-
ser wieder die Ornamentation zu entwickeln, haben sie niemals
recht tief empfunden; nicht bloss ihre Gebäude, sondern auch ihre
theoretischen und kritischen Aeusserungen beweisen diesen Man-
gel. Sie betrachten das Gebäude fast nur wie ein Gehäuse oder
einen Rahmen für eine Sammlung von Bildwerken, Gemälden
und decorativen Ergüssen, und machen daher an dasselbe zunächst
nur die Ansprüche, welche diese Bestimmung mit sich bringt,
angenehme Verhältnisse und genügende Begrenzungen, in denen
sich jene schönen Details freierer Kunstleistungen geltend machen
können. Sie nehmen keinen Anstoss, wenn die Wände im Inneren
und Aeusseren durch den Mangel lebendiger Gliederung leer und
wie unvollendet erscheinen, sie halten damit die architektonische
Arbeit zunächst für geschlossen, lassen sie so Jahrhunderte lang
stehen, ohne durch diesen Anblick zu weiterer Ausführung ge-
reizt zu Werden.