Erstes
Kapitel.
Spanien.
wir haben bisher die mittelalterliche Kimst fast ausschliesslich
an den schöpferisch thätigen, wechselsweise in die allgemeine
Entwickelung eingreifenden oder doch wie Italien ganz selbst-
ständigen Nationen betrachtet. Es bleibt IIIIS jetzt noch übrig,
das Bild in seiner räumlichen Ausdelmung zu vervollständigen,
indem wir auch noch die Völker ins Auge fassen, welche mehr
empfangend an diesem Kunstleben Theil nehmen.
Bei Weitem die Wichtigste unter diesen Nationen ist die
spanische, die, schon durch ihren so scharf ausgeprägten
Nationalcharakter höchst anziehend, in der Geschichte der Poesie
wie in der Weltgeschichte eine hervorragende Stelle einnimmt,
imd auch ihre Begabung für bildende Kunst in verschiedenen
Epochen glänzend bewährt hat.
In vielen Beziehungen ist die Bevölkerung der iberischen
Halbinsel der italienischen verwandt. Zu der ganz ähnlichen
Gunst des Klimas kommt das gleiche Von-walten des romanischen
Elementes; in keiner Provinz des Reiches waren römische Bil-
dung und Sitte so tief eingedrungen wie hier, keine nahm so
lebendigen Antheil an der römischen Literatur, keine war so
reich mit bedeutenden Städten und Werken römischer Architektur
geschmückt, in keiner erlangte daher auch die römische Sprache
so sehr den Sieg über die der germanischen Beherrscher des
Landes, wie hier. Daher denn auch so viele Züge sittlicher Ver-
Wandtschaft in beiden Nationen; das starke persönliche Selbstge-
fühl, welches die Wurzel sowohl edler als gefährlicher und ver-
brecherischer Thaten wird, die Verbindung des kalten nüchternen
Verstandes mit einer glühenden, leicht entzündbaren Leidenschaft,
die Heftigheit hab- und rachsüchtiger Begierden neben der höch-
sten nnd liebenswürdigsten Aufopferungsfähigkeit. Aber trotz