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Italienische
Poesie.
höchstens halbwahre Phrase der Courtoisie, vielleicht nur eine Ein-
kleidung für eine ganz gewöhnliche Bewerbung. Diese Mischung
von-Dichtung und VVahrheit war den Italienern unverständlich.
In praktischen Dingen höchst nüchtern, in ihrer Begeisterung kühn
und abstract, verlangten sie entweder ein einfaches bürgerliches
oder sinnliches Verhältniss oder ein rein ideales. Mit der wirk-
lichen Frau wie mit einem höhern Wesen zu verkehren, war
ihnen unmöglich. Aber; andrerseits waren sie bei ihrer Empfäng-
lichkeit für weibliche Schönheit, ihrer erregbaren Phantasie und
leidenschaftlichen Stimmung sehr wohl fähig, sich dem Liebes-
gefühle ganz hinzugeben, den Gegenstand, welcher dasselbe ver-
ursachte, als etwas Hohes und Wunderbares zu betrachten. Und
wenn dann diese Vorstellung eines wunderbar schönen, hohen
und reinen Gegenstandes die Seele durchdrang, alle imifeinen und
unwürdigeil Gedanken ans ihr verdrängt, sie mit edelem Streben
erfüllte, so war das etwas viel Bedeutsameres als die WVirkung,
welche die Liebe dort auf den ritterlichen Jüngling ausübte. Es
war nicht eine Veredlung im Sinne eines vornehmen Standes,
sondern eine Veredlung im allgemeinen menschlichen Sinne, eine
Wahrhaftgeistige Erhebung, etwas den Wirkungen der Religion
oder einer mit dem Ilerzen erfassten philosophischen Lehre Ver-
wandtes. Da aber dabei die Geliebte nicht selbstthätig war, son-
dem nur durch ihre Erscheinung wirkte, da überdies die südliche
Sitte den geselligen Verkehr der Geschlechter in gewissem Grade
beschränkte, namentlich. Jungfrauen in Einsamkeit und Abge-
schlossenheit hielt, so war es möglich, dass ein so tiefer Eindruck
von einer nur einmal gesehenen Jungfrau ausging, welche der
Liebende nie gesprochen, nie geistig keimen gelernt hatte. Sie
wirkte dann also bloss als ein Bild des Göttlichen, und der Lie-
bende konnte glauben, dass sie, wenn überhaupt ein irdisches
Weib, doch ein Werkzeug des Himmels, um ihn emporzuziehen,
vielleicht aber gar eine Himmelsbewohnerin sei, die sich nur in
die Gestalt einer wirklichen Frau kleidete. Neben dem Glauben
an das VVunderbare, der Leidenschaftlichkeit und der lebendigen
Phantasie, war dabei die mittelalterliche Gewohnheit, sich Tu-
genden und Kräfte in weiblicher Gestalt zu denken, mitwirkend,
um einer solchen Vorstellung einen hohen Grad von Realität zu