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Italienische
Poesie.
Emancipation seines Geburtslandes und seines Reiches von fremder
Poesie leitete. Er dichtete selbst und mitihm der ganze Hof;
Verse des Kaisers, seines grossen Kanzlers Petrus a Vinea und
seines Sohnes, König Enzio, sind noch erhalten, und von dem
ritterlichen König Manfred erzählt der Chronist, dass er Nachts
in den Strassen von Barletta, Canzonen singend, mit andern Dich-
tern zu wandeln pflegte. Die frühesten Dichter dieser Schule sind
in ihren einfachen und ziemlich derben, noch überwiegend in den
Weichen Formen des sicilischen Dialektes geschriebenen Liebes-
liedern von anziehender Wärme und Naivetät. Bei den spätern
dagegen herrscht das Bemühen nach formeller Vollendung und
höfischer Eleganz zu sehr vor. Sie bewegen sich, nach dem Vor-
bilde der Provenzalen, in dem engen Kreise coiiventioneller Lie-
besklagen und spitzlindiger Gedankenspiele, die in der noch un-
sichern Sprache leicht unbeholfen und steif ausfallen. Dafür aber
gelang es ihnen, die Richtung der italienischen Poesie in formeller
Beziehung bleibend festzustellen. Sie begründeten, im Gegensatz
gegen die Antike, den Gebrauch des Beims, erkannten die hohe
Bedeutung, welche die Melodie des Gleichklangs für ihre Sprache
hat, und erfanden endlich die Form des S on etts, welche mit ihrer
plastischen Abrundung und der scharfen Ausprägung eines ein-
zigen Gedankens dem italienischen Volksgeiste so sehr zusagt.
Dies erklärt denn auch den grossen Erfolg ihrer Lieder, die sich
rasch über ganz Italien verbreiteten und bald eine andre Dichter-
schule hervorriefen, welche sowohl in der Ausbildung der Sprache,
als im Gedanken sich höhere Ziele stellte. Der Sitz dieser Schule
war Mittelitalien, Toscana mit den benachbarten Gegenden, und
es hatte auf ihre Richtung ein scheinbar entfernt liegender Um-
stand Einfluss.
"I Während im südlichen Italien das Yolk vermöge seiner apa-
thischen Gewohnheit und der energischen Gesetzgebung Frie-
drichs II. ruhig hinlebte und sang, hatte in diesen Gegenden der
Wilde Parteikampf, der Widerstreit kirchlicher und weltlicher
Interessen, der Gegensatz der glänzenden Lebensweise und des
stolzen Auftretens der Prälaten gegen die Armuth Christi und
seiner Jünger religiöse Zweifel und Sehnsucht erweckt und die
Gemüther in eine Spannung versetzt, welche sich in einem leiden-