Zweites
Kapitel.
Ideal
und
Wirklichkeit.
Während die Italiener, wie wir im vorigen Kapitel sahen, in
allen praktischen Beziehungen, im politischen und socialen Le-
ben, im Verhältniss zur Kirche, selbst in der Wissenschaft sich
als nüchterne Leute von kaufmännischer Klugheit zeigten, bei
denen die idealen Begriffe der nordischen Nationen keine Stätte
fanden , bildete sich bei ihnen in anderer Beziehung ein noch viel
weiter gehender Idealismus aus. Die Richtung desselben erkennen
wir am (leutlichsten in der Geschichte ihrer Sprache und Poesie,
auf die wir daher mit wenigen Worten eingehen müssen.
Es War ein eignes Schicksal und recht bezeichnend für die
Art ihrer Nationalität, dass sie am Anfange des XIII. Jahrhun-
derts, also zu einer Zeit, wo sie schon siegreich die Herrschaft
der deutschen Kaiser zurückgewiesen hatten und auf der Höhe
ihrer republikanischen Freiheit standen, bei einer Civilisation,
welche die ihrer nordischen Zeitgenossen wesentlich übertraf,
noch keine allgemeine, für höhere Zwecke ausreichende Sprache
und daher keine eigene Poesie besassen. Die Dialekte, die dem
gewöhnlichen Verkehre dienten, Ivaren nur in beschränktem Um--
kreise verständlich und jedenfalls für schriftliche Aufzeichnung
nicht vorbereitet, und das Latein, welches noch als allgemeine
Sprache galt und daher bei allen öffentlichen Geschäften, in der
Wissenschaft, bei Gericht, von den Notarien und selbst von den
Predigern auf der Kanzel gebraucht wurde, War doch trotz der
vielen Barbarismen, die sich aus den Dialekten eindrängten, den
Ungelehrten eine fremde Sprache. Eine Unterhaltung in einem
aus beiden Geschlechtern gemischten Kreise lateinisch zu führen,
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