32
Schlussbetrachtung.
sittlichen Regel fehlte, welche diese Kraft zähmen und dem Ge-
meinwesen dienstbar machen konnte. Das Christenthum in sei-
ner damaligen Auffassung gewährte nur Vorschriften für klöster-
liche Entsagung, nicht für die complicirten Anforderungen des
weltlichen Lebens. Die aus der Antike überlieferten Tugendlehren
und Vorbilder, die nie ganz vergessen und jetzt durch die steigende
Gelehrsamkeit und Bildung in vermehrten Umlauf gekommen
waren, nährten zwar den republikanischen Sinn, fanden aber doch
auf die völlig veränderten Verhältnisse der christlichen Italiener
nur sehr bedingte Anwendung.
Viel lehrreicher und zugleich anziehender war die Geschichte
der eignen Zeit, der leidenschaftlichen Kämpfe, bei denen die Gei-
ster aneinanderplatzten und manche Maske fiel, .der vielen tragi-
schen oder rührenden, verletzenden oder erhebenden Vorfälle und
Handlungen. Sie zu beobachten und entweder zu ernster Anwen-
dung oder doch wegen ihres novellistischen Reizes zu erzählen
und zu hören, wurde daher eine Lieblingsbeschäftigung der Nation.
Allein eine tiefere Ausbildung des moralischen Sinnes wurde auch
dadurch nicht gewonnen. Die Würdigung und Darstellung hing
zu sehr vom Parteistandpuukte ab und die Motive waren durch
ihre Vielheit und Mischung so schwer zu erkennen, dass man
sich daran gewohnte, das Urtheil zurückzuhalten und selbst in
dem Dunkeln und Räthselhafteu auch der Handlungen einen Reiz
zu finden. Aber freilich musstedenn doch eben diese Unsicher-
heit mit dem Wunsche nach einem bessern Zustande der Dinge
auch den nach einem klaren, sittlich befriedigenden Ideale her-
vorrufen.