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Giotto
ständig gut oder doch mit geringen Mängeln erhalten, so dass
wir noch sehr wohl über das Ganze urtheilen können.
Schon in den Gegenständen hat es eine gewisse Eigenthüm-
lichkeit. Die Geschichte der Aeltern der Maria, die von nun an
ein Lieblingsgegenstand der Kunst wurde, ist hier zum ersten
Male so ausführlich und genau dargestellt; auch die Verbindung
der historischen Hergänge mit den allegorischen Tugenden und
Lastern ist für diese Zeit charakteristisch, wenn auch dahingestellt
bleiben muss, ob sie von dem Maler gewählt oder ihm vorge-
schrieben war. In der Regel begann die Arbeit desselben erst
mit der Begrenzung der Momente und mit der Einfügung in den
Raum, und man muss auf das Einzelne der an sich in Farbe und
Zeichnung unscheinbaren Gemälde eingehen, um den Sinn und
das Ziel des Meisters richtig zu verstehen. Betrachten wir zuerst
die historischen Darstellungen, so ist ihr Charakter durchweg der
grosser Einfachheit. Die Gestalten stehen überall auf derselben
Fläche, sie sind zwar in ausreichender, aber doch mässiger Zahl,
selbst da, wo sie eine Volksmenge repräsentiren. Müssige Ne-
benpersonen, wie sie Schon Niccolö Pisano im Belief angebracht
hatte, kommen überall nicht vor; jede Gestalt spricht zur Sache,
aber sie drängt sich auch nicht mit ihrer Besonderheit auf, und
mehrere Figuren, die in der Erzählung in gleicher Lage und ohne
individuelle Verschiedenheit erscheinen, sind auch mit gleichem
Ausdrucke dargestellt. Alles Nebenwerk ist vollständig, aber
einfach. Die Tracht, im Ganzen noch die traditionelle, nähert sich
bei den Frauen schon etwas italienischer Sitte, doch in einfachster,
unscheinbarster Weise, so dass man sie kaum bemerkt. Jeden-
falls bleibt sie von den damals aufkommenden Moden eben so
entfernt, wie von dem Fremdartigen byzantinischen-Ueberlieferung.
Die Umgebungen, Gebäude, Berge, Bäume sind nur so weit als
zum Verständniss des Herganges nöthig, in leichten Umrissen
angedeutet, die architektonischen Innenansichten in einer conven-
tioxlellen Form, die etwa dem Durchschnitte des Gebäudes nach
Fortnahme der vorderen Mauer entspricht. An die Reproduction
einer sinnlichen WVirklichkeit ist überall noch nicht gedacht; wie
das ganze Mittelalter, betrachtete auch Giotto noch seine Kunst
als eine Schrift, die, obgleich ohne Buchstaben (teschricbcia, doch