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Giovanni
Pisano
und
Giotto.
Schärfe des Blickes Hir ihre Erscheinungen die meisten seinerZeit-
genossen übertraf, hatte er doch denselben Boden mit ihnen ge-
mein, und das Streben nach Naturwahrheit im Ganzen und be-
sonders in psychologischer Beziehung war gewiss eine allgemeine
Eigenschaft. Ich machte schon darauf aufmerksam, dass wir die
Hergärlge einer nahen Vergangenheit, die er schildert, fast mit
gleicher Lebendigkeit bei den Chronisten erzählt finden, und dass
gewiss die meisten Züge derselben ihm schon überliefert sein
müssen. Besonders aber beweisen dann Danteis künstlerische
Zeitgenossen diesen Zusammenhang. Sie streben nicht nur ganz
wie er nach genauer, verständlicher Schilderung der sittlichen
Hergänge, sondern sie thun dies auch in derselben, wenn ich auch
hier so sagen darf, scholastischen Weise, mit derselben Naivetät,
derselben Gleichgültigkeit gegen etwaige feine Verletzungen der
Harmonie, mit derselben kurzen, gedrängten, unmittelbar auf
die wesentlichen Momente eingehenden V ortragsweise. Der Dich-
ter und die Künstler werden uns daher auch durch ihre Verglei-
chung erst recht verständlich; bald lässt das Wort, bald das Bild
uns das Motiv besser erkennen, das wir denn auch in der andern
Kunst wieder antreffen.
Kam hienach zu der Anforderung tieferen Eingehens auf die
ethischen Motive auch die einer tieferen Naturwahrheit an die
Künstler, so konnten ihnen die conventionellen Motive der bis-
herigen Kunst eben so wenig genügen, wie Dante die conventio-
nellen Gleichnisse seiner Vorgänger. Zwar hatten sie nach da-
maliger Stellung der Kunst nicht die Aufgabe, Dante in der
Schilderung weltlicher Hergänge zu folgen oder sich auf das
weite Feld des natürlichen Lebens einzulassen. Aber sie sollten
die heiligen Hergänge mit ihren eignen nationalenEmplindungen
beleben, den Beschauern wie heutige Ereignisse vor Augen
führen, und dazu gewährten ihnen die bisherigen Quellen der
Kunst, die byzantinische Malerei, die antike Plastik, keine Mittel.
Ihre Kraft, ihre Tragik waren ganz andre als die. welche das
gleichzeitige, christliche Leben bot und jenes sittliche Bedürfniss
anzuschauen wünschte. Es blieb daher auch ihnen nichts übrig,
als aus dem Leben selbst zu schöpfen, so wenig die bisherige
Kunstpraxis dazu Anleitung gab.