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Giovanxxi
Pisano
und
Giotto.
älteren Schule; sie war ihnen der Gegensatz gegen die frühere
Verwilderung, ein Ideal höherer Ordnung und Ruhe. Als aber die
Erinnerung an jene Vorzeit schwand und auf dem festeren Boden
besser geordneter Zustände die Individualität sich wieder mehr
geltend machte, als der fortdauernde Kampf der Parteien und das
spannende Schauspiel bald tragischer, bald erhebender Ereignisse
das Gefühl immer mehr anregten, und das Bedürfniss eines sitt-
lichen Ideals erzeugten, in dessen noch sehr unbestimmten Ziigen
der Ausdruck leidenschaftlicher Energie des Handelns und Em-
pfindens deutlich hervortrat, konnte auch die Kunst nicht umhin,
jene ruhige Haltung zu verlassen und ebenfalls tiefer auf die
Mannigfaltigkeit der Gefühle einzugehen.
Diese allgemeine Anforderung Wurde dann aber durch die
Stellung, Welche die Kunst schon jetzt in der kurzen Zeit nach ih-
rer Erhebung erlangt hatte, noch sehr viel dringender, und erhielt
durch die künstlerischen Regungen, welche sich mehr und mehr
in der Nation entwickelten, eine sehr bestimmte und eigenthüm-
liche Richtung, und es ist ein besonderer Vorzug, dass wir ge-
rade für diesen bedeutenden Moment eine Quelle besitzen, Welche
uns auch über die einwirkenden Nebenursachen Auskunft giebt
und uns gestattet, gleichsam in die geistige Werkstätte der Kunst
hineinzublicken und die Ideen der Zeit auf ihrem Uebergange in
die künstlerische Gestalt zu beobachten.
Diese Quelle ist keine ileuentdeckte, sondern das wohlbe-
kannte, schon so oft von uns benutzte Spiegelbild der Zeit, Dante's
Gedicht, das aber gerade in Beziehung auf die Kunst besonders
reichhaltig und zuverlässig ist. Dante stand ihr clfenbar sehr nahe.
Einer seiner Commentatoreil behauptet, dass er in seiner Jugend
sichihrhabe widmen Wollen, und diese V ermuthung ist bei der male-
rischen Anlage, die seine poetischen Schilderungen darthun, nicht
unwahrscheinlich Jedenfalls War er aber ein eifriger Kunst-
freund, der nicht bloss Giotto, mit dem er befreundet War, son-
Ü Dante selbst im Eingangs zu dem Sonette XXIV. der Vita nuova
schildert sich wenigstens als Dilettanten; er wird dabei betroffen, dass er
einen Engel zeichnet. Mein Aufsatz: Dante und die Schule Giottds in
den Mitth. d. k. k. C. C. VIII. S. 241 enthält eine weitere Entwickelung
mancher der im Folgenden ausgesprochenen Gedanken.