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Anfänge
italienischer
Malerei.
eine, durch die Verhältnisse des italienischen Volkes gebotene
Nothwendigkeit. Sich ohne Weiteres, nur von eigenem Wohl-
gefallen geleitet, in dem Beichthume der natürlichen Erscheinung
zurechtzuiinden und so ohne Vorschule eine darstellende Kunst
zu schaffen, ist menschlicher Kraft nicht verliehen. Es bedarf da-
zu einer allgemeinen, individueller Willkür entrückten Regel,
eines allen Einzelnen gemeinsamen, ihnen gegebenen Standpunk-
tes, von dem aus die Dinge sich gruppiren, und das Wesentliche
in ihren Zügen sich vom Unwesentlichen scheidet. Bei den mei-
sten Völkern und im regelmässigen Gange der Dinge gewährt
die Architektur diese stylistische Grundlage. Erst wenn diese
vorangehende Kunst unter der Herrschaft des Gemeingeistes eine
gewisse Reife erlangt hat, beginnt mit dem individuellen Leben in
sittlicher Beziehung auch das Bedürfniss seiner künstlerischen
Darstellung und findet dann in dem architektonischen Stylgesetze
den Boden zu freier und zugleich gesetzlicher Befriedigung. Bei
den Italienern tiel vermöge ihres ererbten Individualismus diese
architektonische Vorschule fort, sie gingen unmittelbar aus einer
rohen, anarchischen, kunstlosen Zeit in eine civilisirte mit höchst
entwickeltem Selbstgefühle der Einzelnen über, vermöge dessen
man alle Künste zugleich postulirte, ohne die Verbindung der-
selben durch einen naturgemäss auf eignem Boden entstandenen
architektonischen Styl zu besitzen. Sie konnten daher nicht
anders, als sich nach einer bereits vorgeschrittenen Kunst
umsehn und diese in stylistischer und technischer Beziehung
als Ausgangspunkt benutzen, und zogen dabei, da sie keine
Ursache hatten, einer einzigen der ihnen zugänglichen Styl-
formen den Vorzug zu geben, alle, die in ihrem Bereiche lagen,
heran. So kam es, dass diese freiheitsstolze und zugleich kunst-
begabteste Nation in künstlerischer Beziehung durchweg abhängig
wurde, und dass die Architektur gothische Formen, die Malerei
nicht bloss Farbenmischungen und technische Hülfsmittel, son-
dern auch geistige Anschauungen von den Byzantinern annahm
und die Bildner theils wie Niccolö Pisano antike Sculpturen un-
mittelbar nachahmten, theils doch, wie der Meister des Tautbeckens
von Verona, instinktmässig unter der byzantinischen Umhüllung
den antiken Gliederbau aufsuchten. Indessen setzt die Annahme