Mosaiken
der
Marcuskirche.
287
in ungewöhnlich grosser Zahl, indem zu den gewöhnlichen sieben
noch neun andre, Humilitas, ModestiyMisericordia u.a. hinzuge-
kommen sind. Die Arbeit mag etwas neuer sein, als die der erst
erwähnten Kuppel, die Schwächen des byzantinischen Styles treten
zum Theil stärker heraus, die Figuren der Jungfrau und der
Apostel sind übermässig lang tmd mager und mit argen Verren-
kungen dem aufsteigenden Erlöser nachblickend, aber dennoch
änssert sich bei den Tugenden ein Ueberrest antiker Poesie mit
überraschender Kraft und Wirkung. Bis auf die Caritas, welche
wahrscheinlich dem Aussprache des Apostels, dass sie die vor-
nehmste sei, ihr byzantinisches Hofcostüm verdankt, erscheinen
sie als hellenische Frauen und Jungfrauen, die im langen, ärmel-
losen, unter der Brust gegürteten Chiton, das Haupt mit einfachem
Bande oder der flatternden schleierartigen Binde umgeben, sich
wie im feierlichen Reigen anmuthig und würdevoll bewegen.
Fides mit der Krone ist eine junonische Gestalt, 'l'emperantia
giesst das Wasser in die Weingefüllte Schale im festlich gemes-
senen Schritte und mit dem Anstande einer Priesterin, Prudentia
lauscht dem Hauche der ihrem Ohre nicht allzunahe gehaltenen
Schlange mit der Vorsicht einer stattlichen Matrone, Humilitas
und Modestia bewegen sich wie züchtige tanzende Jungfrauen,
Fortitudo endlich, welche den Löwen händigt und ihm kühn mit
der Hand den Rachen öffnet, ist eine grossartige Gestalt, von
kräftigem Gliederbau und edler Bewegung. Ueberall fühlt man
alttike Anschauungen, die von Göttinnen, Horen, Tänzerinnen,
hier vielleicht auch von einer Mänade hergeleitet und ungeachtet
conventionellcr Zeichnung noch mit Verständniss behandelt sind.
Auch die Figuren der Paradiesesströme, welche unter den sitzen-
den Evangelisten auf den Zwickeln dieser Kuppel angebracht
sind, zeigen noch die Empfänglickeit für lebensvolle Motive der
alten Kunst, doch mit geringerem Verständniss und in steiferer
Zeichnung.
Bekanntlich ist der reiche Mosaikenschmuck, welcher jetzt
flüS ganze Innere der Marcuskirche bedeckt, erst sehr allmälig,
1m Laufe von fünf bis sechs Jahrhunderten vollendet, und giebt
daher eine (wenngleich örtlich durch manche Zufälligkeiten sehr
bunt durcheinandergeworfene) chronologische Reihe venetianischer