Fünftes
Kapitel.
Anfänge
italienischer
Plastik
Malerei.
Man sollte glauben, dass das grosse bildnerische Talent der
Italiener , wenn auch während der Zeiten sittlicher Verwilderung
verwahrlost und in Rohheit versunken, sich sofort nach der Bil-
dung besserer politischer Zustände zurecht gefunden und gehoben
haben müsse. Drängte es sich ja doch selbst in der Architektur
und zum Nachlheil derselben überall hervor, wie viel mehr müsste
es sich auf seinem eigenen Gebiete, in darstellenden Werken,
geltend gemacht haben, wo es ungehindert aus der Natur
schöpfen konnte. Allein das geschah keineswegs, vielmehr finden
wir noch lange die Fortdauer derselben Rohheit, und erst gleich-
zeitig mit und selbst nach dem Aufkommen der gothischen Ar-
chitektur eine etwas mehr geregelte Kunstübung, die sich aber
anfangs meist an byzantinische Vorbilder anschliesst, und erst
am Schlüsse des XIII. Jahrhunderts sich zum wirklichen Aus-
drucke nationaler Empfindung erhebt.
Bei der Geschichte und Erklärung dieses Herganges sind
wir in andrer Lage als bei unsern bisherigen Betrachtungen.
Während wir nämlich das ganze Mittelalter hindurch und selbst
noch bei der italienischen Architektur ausschliesslich auf die M0-
numente angewiesen Waren und aus ihnen mit Hülfe von wenigen
Inschriften und zufälligen Nachrichten die geschichtlichen Her-
gänge entnehmen mussten, besitzen wir über die Frühzeit der
italienischen Plastik und Malerei schon ältere, wenn auch nicht
völlig gleichzeitige Berichte und eine daran anknüpfende reich-
haltige Literatur. Allein diese Berichte, denen wir die Bewahrung
der damaligen 'l'raditi0n verdanken und welche daher bleibend
die Grundlage unserer Studien bilden, enthalten nicht bloss zahl-
reiche lrrthiimer im Einzelnen, sondern geben auch im Galilei!