Italien
im
Erstes Kapitel.
dreizehnten Jahrhunderte.
Erst jetzt, nachdem wir die Geschichte der mittelalterlichen Kunst
bei den nordischen Nationen bis auf ihren Höhepunkt und darüber
hinaus geführt haben, dürfen wir uns Wieder nach Italien wenden,
das wir um die Mitte des XII. Jahrhunderts noch in ziemlich anar-
chischen Zuständen verliessen. Italien war zwar, wie jene X7ölker,
ein Glied des grossen abendländischenGemeinwesens; es nahm an
der geistigen Entwickelung desselben, an den Ereignissen und Ideen,
welche dieselbe förderten, mehr oder weniger Antheil; die Blüthe-
zeit des Mittelalters, in welcher dort der gothische Styl reifte,
war auch hier eine Zeit des Aufschwunges, eines erwachenden,
jugendlich rüstigen Lebens, bei welchem auch die Kunst nicht
feierte. Aber es nimmt trotzdem eine gesonderte Stellung ein.
Auch jene Nationen sind freilich nicht völlig gleich, aber ihre Ver-
schiedenheit ist wie die mehrerer Wandrer , welche das Ziel in
derselben Richtung suchen und nur im VVege abweichen. Hier
ist schon das Ziel, die ursprüngliche Richtung eine andre. Die-
selben Worte haben hier eine andre Bedeutung, dieselben Ereig-
nisse eine verschiedene Wirkung, alle Leistungen einen ganz
andern Ausdruck. Was dort als das VVesentliche erschien, wird
hier als leichter Schmuck behandelt, was dort vernachlässigt War,
hier kräftig betont. Es ist nicht mehr eine Verschiedenheit, son-
dern ein Gegensatz, und eine gemeinsame Betrachtung der beider-
seitigen Leistungen würde mindestens gegen die eine Seite ein
Unrecht sein. Jede verlangt ihren eignen Standpunkt.
ES genügt nicht, diesen Gegensatz als den des ltomanischen
gegen das Germanische zu bezeichnen; denn auch unter den
Völkern jenseits der Alpen sind romanische und in dem Charakter
des mittelalterlichen Italiens ist das Germanische ein sehr wesent-