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Italienische
Gothik.
wirklich darauf an, recht viele Spitzen zum Himmel zu strecken,
so hätte man hier in der That das Ziel erreicht; allein schon dass
sich in allen nordischen Ländern keine einzige Anlage dieser Art
findet, hätte an dieser Ansicht irre machen sollen. Der gothische
Styl verlangt vor Allem Wahrheit, construct-ive Grundlagen des
Decorativen, und die hoch in der Luft schwebenden Spitzgiebel
über den Pultdächern der Seitenschifie sind nur ein prunkenrles
Scheinwerk, welches dem Innern widerspricht. Niemals hat auch
der golhische Styl seine Spitzgiebel in so massenhafter Gestal-
tung neben einander gestellt, es ist darin eine decorative Ueber-
treibung, ein schwerfälliger Prunk mit dem, was nur als leichtes
Spiel gestattet ist, dass ein an jenen Styl gewöhntes Auge sich
eher verletzt fühlen muss. Auch im Einzelnen ist viel Yerletzen-
des. Dass die Portale rundbogig sind, ist noch ein geringerer
Fehler, als dass sie bei sehr verschiedener Breite gleich hoch sind,
dass ferner die Gallerien über den Seitenschißen die schweren
Giebel derselben tragen, und dass endlich die Fialen neben dem
Mittelgiebel ganz ohne sichtbare Begründung anheben.
Einfacher und consequexiter ist die Fagzade, welche auf der
Chorseite des Domes in die daruntergelegene Taufkirehe S. Gio-
vanni führt, und welche, wie gesagt, im Jahre 1317 angefangen
Wurdem), und aus drei Portalen besteht, über denen die drei spitz-
bogigen Fenster des Chores der Oberkirche stehn. Auch die
Pfeilerbildung im Innern dieser 'l'aufkirche ist abweichend von
den schweren Formen italienischer Gothik, aus dem Achteck mit
vier polygonen Diensten für die Gurte und ebensoviel zugespitzten
Rundstäben für die Rippeniii).
ß) Vasari schreibt diese Faeade den von ihm als Brüder behandelten
Meistern Agostino und Agnolo zu, welche aber, wie die Herausgeber der neuen
Ausg. (II. 3) mit Recht bemerken, den Urkunden zufolge niemals Dombau-
meister waren. Erst 1340 wird Giovanni, der Sohn des Agostino, Ober-
meister (Rumohr II. 139], während nach der Chronik und dem Zusammen-
hange der Urkunden diese lshqade schon 1317 begonnen sein muss, wo ein
andrer Seneser, Gamaino di Crescenzio, Obermeister war. Dieser besorgte
auch im J. 1318 die Anschaiiung von farbigen Marmorn, welche nur zu diesem
Theile des Baues dienen konnten (Milanesi p. 182], und wird also wohl der
Erbauer derselben sein.
Vergl. Lübke in den Mittheilungen V. S. 194.