Der
Campanile
VOll
Pisa.
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Die Ansicht, dass dies ein von vornherein beabsichtigtes Kunst-
stück sei, findet noch immer einzelne Anhänger welche darin
einen Beweis mittelalterlicher Sonderbarkeit und phantastischer
Willkür sehen. In der That giebt es in Italien mehrere auffallend
schiefe Gebäude und bei einem derselben, dem bekannten Thurm
Garisentla in Bologna, wird man annehmen müssen, dass er ur-
sprünglich schon so gebaut sei ihr). Allein die Garisenda ist ein
schmuckloser Wartthurm eines adlichen Hauses, und da solche
Thürme überhaupt Gegenstände roher Ehrbegierde waren, und
dieser neben dem gewaltigen Thurme der Asinelli errichtet wurde
(1110), ist es möglich, dass der stolze Bauherr in dieser origi-
nellen VVeise seinen Nachbar hat überbieten wollen, während man
bei der abstracten Regelmässigkeit des Pisaner Thurmes nicht be-
greift, dass der Architect selbst sie in dieser Weise zerstört habe.
Da überdies der Augenschein zwischen den drei untern und
sämmtlichen obern Stockwerken die Differenz ergiebgrdass in
jenen auch die" Umgänge abschüssig, in diesen aber Säulen und
Bögen auf der niedriger liegenden Seite erhöhet sind und so den
Unterschied ausgleichen, so wird man mit grosser Sicherheit an-
nehmen dürfen, dass die Senkung unbeabsichtigter Weise durch
mangelhafte Fundamente eingetreten und erst bei Vollendung des
dritten Stockwerks bemerkt worden, dann aber allerdings unge-
achtet der dadurch entstehenden abenteuerlichen Wirkung der
Bau fortgesetzt ist, indem man nun in den obern Theilen durch
künstlich herbeigeführte Herstellung der senkrechten Haltung die
Gefahr des Uebergewichts zu beseitigen wusste. War es daher
"Ü Schon Vasari erklärt die Schiefheit, freilich ohne nähere Begründung,
für die Folge nachlässiger Fundamentirung, seitdem aber sind zahlreiche Schrift-
steller dafür und dawider aufgetreten, welche Ricci, der sich selbst für die
Absichtlichkeit entscheidet, Vol. I. p. 584 aufzählt. Men giebt dem ausser der
Voraussetzung einer abenteuerlichen Neigung auch technische Gründe, nament-
lich den, dass die Wände im Innern nicht vollständig parallel seien. Allein
jene beruht auf einem Missverständnisse und dies ist bei der Schwierigkeit der
Untersuchung und bei der grossen Ungenauigkeit mittelalterlicher Constructionen
nicht als erwiesen oder auch nur erweislich anzusehn. Sehr verständig spricht
sich darüber aus Burckhardt im Cicerone S. 103.
"Ü S. darüber nähere Nachrichten bei Ricci I. 577, der besonders L. B.
Alberti's Gutachten geltend macht.