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Weltleben.
Ablösung von kirchlichen Beschränkungen begünstigte
Bisher war jedes Schauspiel ein neues Ereigniss, zu welchem
man die Mitagirenden erst einüben musste; bei dieser wachsen-
den Vorliebe fanden sich dann aber auch bald Personen, Welche
aus der Schauspielkunst mehr oder weniger ein Gewerbe mach-
ten. Im vierzehnten Jahrhundert zog schon durch die franzö-
sischen Städte eine Gesellschaft angeblich aus dem gelobten
Lande kommender Pilger, welche die Passion darstellten, und
im Anfange des fünfzehnten wurden in Paris sogar mehrere Ge-
sellschaften privilegirt, und zwar mit einer bemerkenswerthen
Theilung der Gegenstände, die confrairie de la passion für „My-
sterien", heilige Gegenstände, die clercs de la Bazoche für soge-
nannte Moralitäteu, Stücke allegorischen Inhalts, endlich sogar
die enfans sans souci für Farcen und Sottiseu. Indessen war
das eigentlich künstlerische Element bei diesen Spielen ein sehr
geringes. Die Mitglieder jener Gesellschaften machten daraus
nicht einen Lebensberuf, sondern waren Handwerker und
Schreiber, welche ihre Künste nur bei festlichen Veranlassungen
producirten, und vor Allem war, wie der ziemlich grosse Vor-
rath solcher dramatischen Werke uns erkennen lässt, ihr poeti-
scher Werth nicht gross; dazu reichte überall die Entwickelung
des psychologischen Elementes nicht aus. Sie enthalten wohl
komische oder auch zarte und liebenswürdige Züge, aber von
Charakteren ist noch keine Spur und die Ereignisse sind so
grob motivirt, dass man unwillkürlich an Marionetten und an die
sichtbaren Fäden denkt, von denen sie bewegt werden. Diese
dramatische Literatur bestätiget also die Wahrnehmungen, die
wir schon bei Betrachtung der Allegorie gemacht haben, und
dient zur Erklärung der Vorliebe für diese. Man vermochte noch
nicht Charaktere zu zeichnen, sondern nur wie auf beigehefteten
Spruchzetteln zu benennen. Dann aber hängt diese Erscheinung
ferner zusammen mit der unermüdlichen Schau- und Vergnü-
Ü Monmerquä et Michel, Thäatre franguis au moyen age, Paris 1839.
Das früheste Schauspiel: le jus Adam, enthält nur eine Reihe lose verbun-
dener Volksscenen, in welchen der Verfasser, Adam der Buckliche aus Arms
(T 1240], seine Lebensschicksale sehr rückhaltlos zum Besten giebt. Die
legendarischen Stücke aus dem vierzehnten Jahrhundert sind mehr dramatisch-