Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Die Spätzeit des Mittelalters bis zur Blüthe der Eyck'schen Schule (Bd. 6 = [2], Bd. 4)

Das 
Volkslied. 
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schlagend kurz, fast überfüllt mit Empfindung, wenn sie ver- 
ständig mid altklug, liebt es räthselhafte Andeutungen, wie dort 
die Form ist hier der Stoff vorherrschend. Aber in beiden ist 
die Beziehung auf die Natur, der Wunsch sich ihrer bewusst zu 
werden, erkennbar, nur dass die Allegorie bloss feste Umrisse 
Zeichnet, während das Volkslied wie ein Colorist mit stark auf- 
getragenen Lichtern und Schatten malt, jene Sich llllf mit der 
klaren Erscheinung der menschlichen Gestalt beschäftigt, dieses 
das Gesammtleben und das Eingreifen geheimer Kräfte in 
menschliche Schicksale ahnend schildern mögte. 
Nicht überall gelangte das Volkslied zu gleicher Bedeutung. 
In Frankreich war das Landvolk von dem Glanze des Adels zu 
sehr geblendet, in den Städten aber schon jener logisch nüch- 
terne Sinn ausgebildet, der sich wohl das ausgesprochene 
Wunder, aber nicht das nur geahnete Geheimniss gefallen lässt; 
die bürgerliche Novellenpoesie blieb hier die einzige populäre 
Gattung. Auch in Deutschland war das städtische Element der 
Poesie nicht unbedingt günstig; die Zunftmeister, unter denen 
sich ja auch die Meister der bildenden Kunst befanden, glaubten 
sich berufen auch Poesie nach handwerksmässigen Regeln zu 
treiben; die hölzernen Reimkünsteleien der später sogenannten 
Meisterschulen begannen schon jetzt. Aber daneben blühete 
hier wie in England das eigentliche Volkslied, der kräftige, fast 
unwillkürliche Ausdruck der Erlebnisse und Anschauungen des 
Volkes. Das englische V olkslied hat mehr leidenschaftliche 
Energie, das weiche Gefühl des sächsischen Stammes ist mit 
der trotzigen Härte des normannischen verschmolzen, das lange 
Ringen zweier Nationen hat ein tragisches Pathos erzeugt. Das 
deutsche Volkslied ist einförmiger, es zeigt gewöhnlich Wald 
und Flur oder Haus und Stadt in tiefstem Frieden, erzählt häu- 
figer Ereignisse passiven Erduldens als kräftiger That, lässt 
mehr den Wandersehritt des Handwerkers als den Hufschlag 
des ritterlichen Rosses, selbst in den schweizerischen Schlacht- 
gesiingen mehr den Massenkampf des Fussvolks alS die hellen 
Schwertklänge einzelner Helden durchhören. Aber dafür sind 
die Gefühle tiefer, treuer, die Bilder bleibender, heller. Die eng- 
lische Ballade ist dramatischer, eignet sich mehr für Recitation, 
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