Das
Volkslied.
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schlagend kurz, fast überfüllt mit Empfindung, wenn sie ver-
ständig mid altklug, liebt es räthselhafte Andeutungen, wie dort
die Form ist hier der Stoff vorherrschend. Aber in beiden ist
die Beziehung auf die Natur, der Wunsch sich ihrer bewusst zu
werden, erkennbar, nur dass die Allegorie bloss feste Umrisse
Zeichnet, während das Volkslied wie ein Colorist mit stark auf-
getragenen Lichtern und Schatten malt, jene Sich llllf mit der
klaren Erscheinung der menschlichen Gestalt beschäftigt, dieses
das Gesammtleben und das Eingreifen geheimer Kräfte in
menschliche Schicksale ahnend schildern mögte.
Nicht überall gelangte das Volkslied zu gleicher Bedeutung.
In Frankreich war das Landvolk von dem Glanze des Adels zu
sehr geblendet, in den Städten aber schon jener logisch nüch-
terne Sinn ausgebildet, der sich wohl das ausgesprochene
Wunder, aber nicht das nur geahnete Geheimniss gefallen lässt;
die bürgerliche Novellenpoesie blieb hier die einzige populäre
Gattung. Auch in Deutschland war das städtische Element der
Poesie nicht unbedingt günstig; die Zunftmeister, unter denen
sich ja auch die Meister der bildenden Kunst befanden, glaubten
sich berufen auch Poesie nach handwerksmässigen Regeln zu
treiben; die hölzernen Reimkünsteleien der später sogenannten
Meisterschulen begannen schon jetzt. Aber daneben blühete
hier wie in England das eigentliche Volkslied, der kräftige, fast
unwillkürliche Ausdruck der Erlebnisse und Anschauungen des
Volkes. Das englische V olkslied hat mehr leidenschaftliche
Energie, das weiche Gefühl des sächsischen Stammes ist mit
der trotzigen Härte des normannischen verschmolzen, das lange
Ringen zweier Nationen hat ein tragisches Pathos erzeugt. Das
deutsche Volkslied ist einförmiger, es zeigt gewöhnlich Wald
und Flur oder Haus und Stadt in tiefstem Frieden, erzählt häu-
figer Ereignisse passiven Erduldens als kräftiger That, lässt
mehr den Wandersehritt des Handwerkers als den Hufschlag
des ritterlichen Rosses, selbst in den schweizerischen Schlacht-
gesiingen mehr den Massenkampf des Fussvolks alS die hellen
Schwertklänge einzelner Helden durchhören. Aber dafür sind
die Gefühle tiefer, treuer, die Bilder bleibender, heller. Die eng-
lische Ballade ist dramatischer, eignet sich mehr für Recitation,
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