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Weltleben.
thume oder aus arabischen Quellen erhalten waren, wurden daher
jetzt hervorgesucht und unzählige Male copirt und neu bearbeitet.
Allein die Fabel nimmt ihre Bilder am liebsten aus der Thier-
welt, das Gleichniss zeichnet flüchtig und duldet kein gründ-
liches Ausmalen, beide deuten ihre Lehren nur an, ohne sie in
bestimmte Begriffe zu fassen und namentlich in solche , welche
man den überlieferten Lehren anreihen und auf die sittlichen
Verhältnisse der Gesellschaft anwenden konnte. In allen diesen
Beziehungen war die Allegorie vorzuziehen; sie gab bestimmte,
unzweideutige Begriffe, räumte auf und ordnete, gab zugleich
ein festes Bild und zwar einer menschlichen Gestalt, und übte,
beide zu verbinden und in Handlung übergehen zu lassen. Sie
war in der That die künstlerisch am meisten vollendete und har-
monische Gattung, welche diese Zeit besass und erwarten
konnte. Dazu kamen dann freilich noch andere Gründe; in
Italien brauchten Dante, Petrarca und Boccaccio die Allegorie,
um den wieder aufsteigenden antiken mythologischen und histo-
rischen Gestalten eine Berechtigung auf christlichem Boden und
in christlicher Dichtung zu geben, in unsern nordischen Ländern
kam ihr zu Statten, dass sie das Gepräge des Vornehmen und
Gelehrten an sich trug und sich der 'l'heilnahme der unteren
Volksklassen entzog.
Denn allerdings war der Vorrang der höhern Stände auch
auf diesem Gebiete bedrohet; während diese mehr und mehr in
Weitschweifigkeit und Pedanterie verfielen, regte sich unter
Bürgern und Bauern eine ähnliche Sangeslust, wie vor zwei-
hundert Jahren in den ritterlichen Kreisen, ein Jugendgefühl, das
ihnen die Brust schwellte, und sie trieb, ihre Schicksale und
Empfindungen mit der geheimnissvollen Hülfe des Reimes und
des Tones sich anschaulich zu machen. Man sang auf Wegen
und Stegen, hinter dem Pfluge und in den Werkstätten, und das
beliebte Lied wanderte jetzt durch Städte und Dörfer, wie sonst
von einem Schlosse zum andern. Es klang wohl anders wie
jene ritterlichen Minnelieder, aber es stand ihnen an Wärme des
Gefühls und psychologischer Tiefe nicht nach. In vielen Bezie-
hungen steht das Volkslied in vollem Gegensatze gegen die
Allegorie, wenn diese weitschweifig und trocken, ist jenes