Allegorie.
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naivem, aber fliichtigem Blicke. Das hörte jetzt auf; die Miss-
griffe und Missverhältnisse, an denen man überall Anstoss nahm,
forderten Abhülfe, die nur durch genauere Beobachtung der
natürlichen Verhältnisse gewonnen werden konnte. Man wollte
daher beobachten und sich der Resultate bewusst werden, fand
aber sofort, dass das nicht leicht sei. Man musste erst sehen
lernen, sich erst gewöhnen, die bewegten Bilder des Lebens zu
fixiren, sich von den Details der Erscheinung, von ihren Bewe-
gungen und Xieränderungen Rechenschaft zu geben. Diese Ue-
bung wurde eine Lieblingsbeschäftigung der Zeit und daher auch
eine Aufgabe der Poesie. Daher denn zunächst die Vorliebe für
Beschreibungen. Bei der Ueberarbeitung der alten Heldenge-
dichte, wo der psychologische Stoff "in seiner Idealität weiterer
naturalistischer Ausführung sich entzog, hielt man sich wenigstens
an die N ebendinge; Tracht, Waffen, Geräthe, Gebäude wurden
mit einer freilich dem poetischen Zwecke nicht günstigen und
für die Ungeduld moderner Leser kaum erträglichen Genauigkeit
ausgemalt. Daneben aber entstanden in allen Ländern Dich-
tungen, welche psychologische Hergänge nach dem Leben zu
schildern versuchten. So wuchern in Frankreich die Novellen,
Fabliaux, Contes und ähnliche leichte Reimereien, welche gesell-
schaftliche Ereignisse mit mehr oder Weniger Talent und Nai-
vetät erzählen; in Deutschland sind die langathmigen Lehrge-
dichte oft nur sehwerfällige Rahmen für eine Sammlung von
Anekdoten; in England zeigt Chaucefs berühmtes Gedicht
schon die nationale Gabe tiefer, humoristischer Charakteristik.
Aber im Ganzen konnten diese Versuche wenig befriedigen;
selbst die besseren zeigen die Schwäche des psychologischen
Blickes. Die moralischen Thatsachen sind entweder wie Räthsel
und Wunder unerklärt gegeben, oder die Motive so grob, so
isolirt und widerstandslos wirkend dargestellt, wie es sich mit
der Organisation der menschlichen Seele nicht verträgt. Es ist
ein roher Dilettantismus, Welcher der gebildeteren Welt nichts
gewährte. Grössere Gunst verdienten daher die Gattungen,
Welche Bild und Gedanken gesondert, aber eben deshalb schärfer
begränzt enthalten, wie die Fabel und das Gleichniss; alle
Sammlungen solcher lehrhaften Erzählungen, die aus dem Alter-
VI. ö