Mystik
und
Kunst.
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drucke von Seelenreinheit und Innigkeit, der fast die Gränzen
des Körperlichen überschreitet. Aber schon die Mystiker konn-
ten sich auf jener luftigen Höhe nicht lange halten und kehrten
überall auf einen mehr greifbaren und allläglicheren Boden zu-
rück; Susois Visionen gestalteten sich zu lieblichen, darstell-
baren Bildern, Nicolaus wurde zu scharfsinniger, moralischer
Beobachtung und zur Einwirkung auf Andere gedrängt, die
Liebeswärme, mit der sie alle Nahen lmd Fernen sich zuwen-
deten, musste allmälig das Auge mehr und mehr für Leben und
VVahrheit öffnen, und die Mystik wurde endlich zu einer Schule
der Erfahrung, Welche, im Gegensatze zu der früheren Buch-
Weisheit und allgemeinen Betrachtungsweise, auf das Individuelle
und auf das Geheimniss des psychischen Lebens in der physi-
schen Existenz hinwies. Dies Alles trat dann noch mehr bei den
Malern ein, ihre idealen Gestaltern belebten sich mehr und mehr,
bekleideten sich mit den Zügen lieblicher Jugend und Schönheit,
so dass zuletzt das scheinbare Abwenden von der Natur gerade
zu ihr hinführte. Beide, Mystiker und Künstler, gingen dann
auf diesem XVege weiter. Während Gerhard Groote und seine
Schüler gleich von vorn herein bescheidener und praktischer auf-
traten , mit der Aufgabe tieferer Selbsterkenntniss und nützlicher
Arbeit begannen und die Mystik mehr in die Breite des Lebens
übertrugen, folgt ihnen die Kunst auf dem Fusse, und neben
jener ersten, strengeren Schule erhebt sich , und zwar in dem
Vaterlande dieser niederdeutschen Mystik, eine zweite, Welche
mit bescheideneren, aber doch nicht ganz aufgegebenen Ansprü-
chen an Idealität näher und unmittelbarer auf die reale Wirklich-
keit eingeht.
Dazu kam nun der Gang der weiteren geschichtlichen Ent-
wickelung. Das lange ersehnte Concil trat endlich zusammen,
die Kirche war aufs Neue einheitlich und in imposanter Gestalt
repräsentirt, und diese Erscheinung, so gering die wirklichen
Resultate Waren, so wenig es zu der gründlichen Reformation
all Haupt und Gliedern kam, so viel Menschliches sich gerade
an ihr dem Näherstehenden zeigte, genügte doch für die Menge,
die froh war, der Besorgniss der Kirchenspaltung und der
Pflicht eigener Prüfung übel-hoben zu sein. Die Welt ging vor-